Schüler in einem Klassenzimmer mit Blick auf die Schultafel (Symbolbild)
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Schüler in einem Klassenzimmer mit Blick auf die Schultafel (Symbolbild)

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Politische Bildung an bayerischen Schulen - ungenügend?

Schulen sollen Jugendliche zu mündigen Bürgern erziehen und zur politischen Teilhabe befähigen – steht in der Bayerischen Verfassung. Allerdings: In Bayern wird das Fach deutlich weniger unterrichtet als im bundesweiten Vergleich. Reicht das aus?

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

"So", ruft Lehrer Holger Keilwerth seiner Klasse zu. "Ich hoffe, ihr habt eure Schulaufgabe gut überstanden." Er unterrichtet das Fach "Politik und Gesellschaft" in einer 10. Klasse im Städtischen Theodolinden-Gymnasium München. Gerade haben die Schüler eine Klausur geschrieben, jetzt sollen sie sich praktisch mit Politik beschäftigen.

In wenigen Wochen werden sie nach Berlin fahren. Was sie dort machen, sollen sie selbst planen. "Dadurch kommen sie auch einmal direkt mit den Institutionen und ihren Websites in Kontakt", erklärt Keilwerth. Denn um eine Demokratie aufrechtzuerhalten, brauche es Schüler mit demokratischem Verständnis, sagt er.

Politische Bildung in Bayerischer Verfassung verankert

Ein Ziel, das auch in der Bayerischen Verfassung steht. Darin heißt es: "Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen."

In diesem Sinne hat die bayerische Staatsregierung im Jahr 2017 ein Gesamtkonzept zur politischen Bildung vorgelegt. Darin steht: Die Schule bereite Schülerinnen und Schüler zusammen mit den Erziehungsberechtigten auf ihr Leben in Beruf, Gesellschaft und Staat vor. Und: Um sich als mündige Bürger am politischen Leben und der Gesellschaft beteiligen zu können, brauche es die politische Bildung an Schulen. Diese solle auch davor schützen, sich in den Bann von "Extremisten gleich welcher Richtung ziehen zu lassen."

In Bayern relativ wenig Unterrichtszeit für Politische Bildung

Ziele, die derzeit besonders relevant erscheinen, in Zeiten, in denen über das Wahlalter ab 16 für bayerische Landtagswahlen diskutiert wird und die Pole in der Gesellschaft immer weiter auseinanderdriften. Allerdings: Wird an Bayerns Schulen auch genug getan, um diese Ziele zu erreichen?

Tatsache ist: In Bayern entfällt verhältnismäßig wenig Unterrichtszeit auf den Politikunterricht. In anderen Bundesländern steht das Fach früher und häufiger im Lehrplan. Das zeigt eine Studie der Uni Bielefeld. Seit 2017 erscheint sie jährlich.

Zuletzt haben die Autoren im Dezember des vergangenen Jahres ihre Bilanz gezogen. Es heißt: "Von einer Gleichwertigkeit der politischen Bildung nach Schulstufen, Schulformen und Bundesländern kann keine Rede sein." Und: "Drei Länder verharren seit fünf Jahren in der Schlussgruppe des Rankings Politische Bildung: Bayern, Thüringen und Rheinland-Pfalz."

Die Autoren der Studie haben verglichen, wie viel Unterrichtszeit jeweils im Jahr 2021 in der Sekundarstufe I - also den Klassen fünf bis zehn -, in der gymnasialen Oberstufe und an Berufsschulen für Fächer der politischen Bildung aufgewendet wurde. Das sind meistens "Sozialkunde", "Politik und Gesellschaft" oder "Gemeinschaftskunde".

💡 Dazu haben die Wissenschaftler in jedem Bundesland den Lehrplan von Gymnasien erfasst sowie von mindestens einer weiteren Schulform der Sekundarstufe 1 - in Bayern war es die Realschule. Was ihnen dabei auffiel: In fast allen Bundesländern hätte die politische Bildung an Gymnasien mehr Gewicht als an anderen Schulformen. Nicht so in Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und dem Saarland. In Bayern hätten Realschüler mit zwei Wochenstunden Sozialkunde in der zehnten Klasse beispielsweise mehr Unterricht in politischer Bildung als Gymnasiastinnen und Gymnasiasten.

Diese Passage haben wir aufgrund der Kommentare mehrerer unserer Nutzer im Rahmen des BR24 Projekts "Dein Argument" ergänzt. 💡

Sozialwissenschaftler: Politische Bildung entsteht nicht in 45 Minuten

"Es braucht Zeit, eigene politische Positionen zu entwickeln", sagt Reinhold Hedtke von der Universität Bielefeld. Er ist dort Professor für Wirtschaftssoziologie und Didaktik der Sozialwissenschaften und hat die Studie federführend mit verfasst. Es brauche den Austausch mit Schulkameraden, um die eigene Position zu finden, zu revidieren, zu verteidigen oder weiterzuentwickeln – und das vor allem in der Sekundarstufe I, wenn sich die politischen Positionen herausbilden, sagt er.

"Das heißt: Politische Bildung und vor allen Dingen eine politisch gebildete Persönlichkeit lässt sich nicht in einem Schuljahr mit 45 Minuten pro Woche erreichen, das ist völlig unmöglich."

💡 Die Autoren der Studie weisen aber auch darauf hin, dass sich alleine durch die Platzierung im Ranking nicht sagen lasse, ob die politische Bildung in einem Bundesland gut oder schlecht aufgestellt ist. Faktoren dafür könnten auch sein, wie oft der Unterricht ausfalle und wie häufig er von fachfremden Lehrer gehalten werde.

Lehrermangel ist auch in Bayern ein großes Thema. Zu Beginn des Jahres hatte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) deshalb angekündigt, Lehrkräfte aus anderen Bundesländern abwerben zu wollen. Eine Anfrage der Grünen im Bayerischen Landtag, die dem BR vorliegt, hatte ergeben, dass das Fach "Sozialkunde" an Bayerns Realschulen im Schuljahr 2021/22 zu 51 Prozent von fachfremden Lehrern unterrichtet wurde. An Gymnasien waren es 10,2 Prozent. Seit dem Schuljahr 2022/23 heißt das Fach übrigens auch an Bayerns Realschulen Politik und Gesellschaft (PuG).

Diese Passage haben wir aufgrund der Kommentare mehrerer unserer Nutzer im Rahmen des BR24 Projekts "Dein Argument" ergänzt. 💡

Freistaat fördert zahlreiche Projekte zur politischen Bildung

Politische Positionen werden allerdings nicht ausschließlich in "Sozialkunde", "Gemeinschaftskunde" und "Politik und Gesellschaft" verhandelt.

Ortswechsel. Ein Raum im Erdgeschoss in der Münchener Innenstadt. Die bodentiefen Fenster sind mit dicken Vorhängen zugezogen. Die Tische in dem Raum sind in einem Viereck angeordnet, in der Mitte sitzen zwei Männer auf Stühlen. "Die Juden haben dir das Hirn gewaschen", sagt der eine. "Wieso? Ich war doch nur einmal in der Synagoge", sagt der andere. "Ich war ja auch einmal in der Moschee und einmal in der Kirche."

Es ist ein Rollenspiel, das die beiden Männer präsentieren. Sie kommen eigentlich von "MIND prevention", einer Initiative, die Strategien zur Prävention von Extremismus, Integration und Demokratieförderung entwickelt. Gegründet wurde sie vom Autoren und Psychologen Ahmad Mansour und seiner Frau Beatrice Mansour. Mit solchen Rollenspielen gehen sie in Schulen, um zu sensibilisieren und mit Jugendlichen über ihre Positionen zu diskutieren. Das Kultusministerium fördert das Projekt – eines von verschiedenen.

Kultusminister Piazolo hält Studie für "Erbsenzählerei"

"Wir in Bayern haben ganz bewusst gerade in den letzten Jahren auch die projektorientierte Arbeit gestärkt", sagt Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler), "weil wir auch gemerkt haben, dass das den Schülern sehr viel bringt, auch gerade Planspiele oder Rollenspiele, die man dann zusätzlich macht."

Deswegen kritisiert er den Ansatz der Studie, die Stunden zu zählen. Als "Erbsenzählerei" bezeichnet er dies. Bayern habe einen anderen Ansatz als andere Bundesländer. Politische Bildung sei "sehr, sehr bewusst, auch fächerübergreifend, um die Verbindungen zwischen den Fächern aufzuzeigen."

Auf diesen "fächerübergreifenden" Ansatz verweist die Staatsregierung auch in ihrem "Gesamtkonzept Politische Bildung". Von Leitfächern der politischen Bildung ist darin die Rede, etwa Geschichte, Geographie, Wirtschaft und Recht. Außerdem verweist das Konzept auch auf außerschulische Bildungsangebote, etwa von den Landtagen, dem Bundestag, den landeszentralen der politischen Bildung. 

Schulprojekte erreichen weniger Schüler

Sozialwissenschaftler Hedtke von der Universität Bielefeld überzeugt das nicht. Außerschulische Angebote oder Projekte seien nicht verpflichtend, sagt er, also werde auch nicht jeder damit erreicht.

Tatsächlich erreicht zum Beispiel das Projekt von "MIND prevention" lediglich rund 1.000 Schüler im Jahr. Zwar werden auch Lehrer in der Methode geschult, das Projekt soll wachsen und es ist auch nicht das einzige Projekt für Bayerns Schulen. Aber bis 1,6 Millionen Schüler im Freistaat gleichermaßen an einem solchen Projekt teilnehmen können, dürfte es dennoch dauern.

Politikunterricht mit anderem Zugang

Zurück am Städtischen Theodolinden-Gymnasium in München. Hier legen sie einen besonderen Fokus auf politische Bildung, bieten einen sozialwissenschaftlichen Zweig an. Ab der achten Klasse haben die Schüler Politikunterricht. Vierstündig. Rund zwei Drittel der Schüler wählen diesen Zweig. Sie engagieren sich politisch auch außerhalb der Schule. Weil Demokratie etwas sei, was alle vereine und wo jeder mitmachen könne, sagt beispielsweise Schülerin Martina Knoll. Deswegen ist ihr auch der Politikunterricht wichtig: "Damit sich jeder auch dessen bewusst ist", sagt sie.

Lehrer Keilwerth ergänzt: "Wir haben im Fach Politik und Gesellschaft einen ganz anderen Zugang zu den Inhalten, als etwa in Geschichte. Das Thema steht im Mittelpunkt und wir stellen viel mehr Bezug zur Lebenswelt der Schüler dar, zu aktuellen Themen." Deswegen findet er es gut und wichtig, politische Bildung als eigenständiges Fach ab der achten Klasse zu unterrichten.

Dem stimmt auch Hedtke zu: "Natürlich kann politische Bildung auch in anderen Schulfächern stattfinden. Aber das gilt in allen anderen Bundesländern auch. Hier hat Bayern also keinen besonderen Vorteil."

Bayern will politische Bildung stärken

An der gymnasialen Oberstufe hat der Freistaat zuletzt nachgelegt. Mit der Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium wird in den Jahrgängen elf und zwölf künftig eine Stunde mehr "Politik und Gesellschaft" unterrichtet. An der Situation in den Klassenstufen fünf bis zehn hat sich allerdings nichts geändert.

"Wir haben das Fach ausgebaut", sagt Kultusminister Michael Piazolo dem BR. "Und ich bin da bereit und will das auch, dass man das noch weiter tut." Aber er setze auch auf Projekte, die er weiterentwickeln möchte. "Weil für mich auch ganz entscheidend ist, dass die Schülerinnen und Schüler sich auch selber einbringen können", sagt er.

Mehr und früher: Opposition will politische Bildung an Schulen stärken

Beides fordert auch ein Großteil der Opposition im Bayerischen Landtag. Die AfD möchte, dass der Unterricht "ideologiefreier" wird. Die übrigen Parteien, Grüne, SPD und FDP, wollen den Unterricht stärken und politische Planspiele wie beispielsweise Schulparlamente stärker etablieren.

Der Sprecher für lebenslanges Lernen und Lehrkräfte der Grünen-Fraktion, Thomas Gehring, sagt: "Wir brauchen die politische Bildung früher. Mit 14, 15, 16 macht man sich schon viele Gedanken über die Welt und da muss dann auch politische Bildung den Leuten angeboten werden." Streichen will er andere Fächer dafür nicht, sondern über neue Fächerkombinationen nachdenken.

Bayern lässt Qualität der politischen Bildung nicht untersuchen

Sind Schülerinnen und Schüler in Bayern nun also schlechter auf das politische Leben vorbereitet? Abschließend klären lässt sich das nicht. Schließlich sagt es nichts über die Qualität des Unterrichts aus, wie häufig er erteilt wird.

Aber es gibt eine Studie, die weltweit untersucht, wie Schulen und Unterricht zur demokratischen Erziehung von Jugendlichen beitragen: die "International Civic and Citizenship Education Study". In Deutschland sind daran die Universität Leipzig und die Universität Duisburg-Essen beteiligt. Sie haben im vergangenen Jahr bei der Kultusministerkonferenz in allen Bundesländern um deren Teilnahme geworben. Aber nur Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben zugesagt. Bayern nicht.

Schüler im Klassenzimmer
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Wie sieht es in Bayern aus mit Politik und politischer Mündigkeit? Es könnte mehr sein, urteilt da eine neue Studie der Uni Bielefeld.

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