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Carsten S. im NSU-Prozess

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NSU-Prozess: Anwälte von Carsten S. haben das Wort

NSU-Prozess: Anwälte von Carsten S. haben das Wort

Im NSU-Prozess sollen heute die Plädoyers der Verteidigung weiter gehen. Nachdem vergangene Woche die Wunschanwälte der Hauptangeklagten Beate Zschäpe drei Tage lang plädiert haben, haben nun die Verteidiger von Carsten S. das Wort. Von Thies Marsen

Die Öffentlichkeit außerhalb des Gerichtssaals A 101 kennt Carsten S. nur als den Mann mit der blauen Kapuze. Denn wenn im NSU-Prozess kurz vor Beginn eines Verhandlungstages die Kameras klicken und surren, dann hat der heute 38-Jährige stets eine große Kapuze weit über das Gesicht gestülpt. Carsten S. will und soll nicht fotografiert oder gefilmt, sein Konterfei nicht öffentlich gemacht werden, denn er ist im Zeugenschutzprogramm. Und das mit gutem Grund: Der Mann mit der Kapuze hat sich „nackig“ gemacht, wie er selbst es ausgedrückt hat. Er hat schon vor dem Prozess und auch gleich zu Beginn des Verfahrens im Juni 2013 umfassend ausgesagt.

Acht Tage lang stand er damals dem Gericht und den Opferanwälten Rede und Antwort, sein Verteidiger Johannes Pausch kommentierte anschließend: "Ich denke viele Fragen wurden an ihn gerichtet, wobei sie sich eigentlich an Frau Zschäpe hätten richten müssen – aber da er der einzige Angeklagte ist, der aussagebereit war, musste er das auf sich nehmen und hat das auch ganz gut gemacht, finde ich."

Carsten S. hat schonungslos ausgesagt

Im Laufe von fünf Jahren Prozess haben bis auf André E. auch die anderen Angeklagten ausgesagt. Aber niemand hat es so schonungslos und glaubwürdig getan wie Carsten S. Dabei hat er sich selbst und andere teils schwer belastet, vor allem Ralf Wohlleben. So schilderte Carsten S. detailliert, wie er im Auftrag Wohllebens Kontakt zum untergetauchten Neonazi-Trio hielt und dem NSU jene berüchtigte Ceska-Pistole mit Schalldämpfer lieferte, mit der neun Migranten ermordet wurde.

Und er sorgte für Überraschungen – etwa als er am 9. Verhandlungstag einen Anschlag des NSU enthüllte, den die Behörden trotz intensivster Ermittlungen nicht mit der Terrorgruppe in Verbindung gebracht hatten: verübt 1999 in Nürnberg mit einer als Taschenlampe getarnten Rohrbombe. Bundesanwalt Herbert Diemer in Erklärungsnöten.

"Also da muss man ganz klar sagen, das war keine Ermittlungspanne. Diese Nürnberger Sache, die der Angeklagte S. heute angesprochen hat, lässt zunächst einmal vom Sachverhalt nicht einen NSU Bezug erkennen, allein die Tatsache, dass es hier um eine Rohrbombe ging muss nicht unbedingt aufdrängen, dass es NSU-Bezug hat, das sieht heute natürlich anders aus, deswegen prüfen wir es auch sofort, da kann man also niemandem einen Vorwurf machen, meiner Meinung nach." Herbert Diemer, Bundesanwaltschaft

Neonaziszene verlassen

Als einziger Angeklagter hat Carsten S. der Neonaziszene glaubhaft den Rücken gekehrt – und das schon lange vor dem Auffliegen des NSU. Anfang der 2000er Jahre bekannte er sich zu seiner Homosexualität, ging nach Nordrhein-Westfalen. Doch die letzte Konsequenz, zog er nicht, kritisiert Opfer-Anwalt Mehmet Daimagüler:

"Ich meine er hat eine Ceska geliefert mit Schalldämpfer. Danach ist er aus der Naziszene ausgestiegen, hat ein neues Leben aufgebaut in Düsseldorf und dann liest er in der Zeitung – nehme ich mal an – dass regelmäßig Migranten mir einer Ceska mit Schalldämpfer ermordet werden, und da frage ich mich schon, ob er sich nicht mal überlegt hat im Laufe der Jahre: Könnte das mit meiner Tat zu tun gehabt haben, sollte ich nicht zur Polizei gehen?" Mehmet Daimagüler, Opfer-Anwalt


Witwe des Münchner NSU-Opfers verzeiht Carsten S.

Viele Nebenkläger blieben dann auch lange Zeit skeptisch gegenüber Carsten S., obwohl er den Angehörige der NSU-Opfer im Gerichtssaal unter Tränen sein Mitgefühl aussprach. Bei Fragen zu seiner früheren extrem rechten Einstellung zeigte er sich regelmäßig wortkarg bis sprachlos – vielleicht aus Scham, vielleicht, weil der heutige Carsten S. mit seinen damalige Neonazi-Alter Ego einfach nichts mehr zu tun haben will. Yvonne Boulgarides, Witwe des Münchner NSU-Opfers Theodorous Bouldgarides, hat Carsten S. dennoch verziehen. Gemeinsam mit ihren beiden Töchtern hat sie vor einigen Monaten auf eigenen Wunsch den Mann persönlich getroffen, der die Waffe lieferte, mit der ihr Ehemann ermordet wurde.

"Er hat sich nochmals bei uns entschuldigt, und hat währenddessen so, wirklich, wirklich furchtbar geweint und sowas kann man nicht spielen, wir konnten alles fühlen. Wir hoffen, dass seine Strafe entsprechend milde ausfällt." Yvonne Boulgarides, Witwe eines Münchner NSU-Opfers

Die Bundesanwaltschaft hat für Carsten S. eine Jugendstrafe von drei Jahren gefordert – vielleicht muss er aber auch gar nicht ins Gefängnis. Dann wird er eine neue Identität bekommen und in eine neue Stadt umziehen müssen. Wirklich frei wird der Mann mit der Kapuze wohl nie mehr werden.