Blick in eine Klinik, im Vordergrund ein Arzt (Archivbild)
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Blick in eine Klinik, im Vordergrund ein Arzt (Archivbild)

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Notruf aus der Notaufnahme: "Werdet bloß nicht krank"

Die Belegschaften vieler Notaufnahmen ächzen unter der Belastung. Die geplante Krankenhausreform der Bundesregierung soll das ändern. Doch kann sie das schaffen? Oder macht sie am Ende alles nur schlimmer?

Über dieses Thema berichtet: Der Funkstreifzug am .

Eine rote Lampe blinkt in der Notaufnahme des Klinikums Deggendorf. Ein Hubschrauber ist im Anflug. Mit einem Patienten, der schwer verletzt sein könnte. Auf dem Monitor vor Oberärztin Esther Jirgal ploppen Meldungen auf: Der Patient hat offenbar ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Die Informationen kommen vom Rettungsteam aus dem Helikopter.

Alltag in der Notaufnahme

Pflegerin Lisa Zahn schlüpft in eine gelbrote Warnweste. Sie fährt mit dem Fahrstuhl zum Hubschrauber-Landeplatz. In solchen Momenten gehe "der Puls hoch", sagt sie. Dann hilft sie, den Patienten umzuladen. Der Mann ist 71. Ob er eine Hirnblutung erlitten hat, soll eine Computertomographie zeigen.

Nur Minuten vorher geht es weniger hektisch zu: Oberärztin Jirgal untersucht in einem Behandlungszimmer einen 53 Jahre alten Mann. Er klagt über Nackenschmerzen und einen Insektenstich am Fuß. Ihm fehlt nichts, lautet die Diagnose nach der Untersuchung.

Zwei Patienten, zwei Szenen: Sie zeigen die tägliche Realität in bayerischen Notaufnahmen. Auf der einen Seite sind da die ernsten, schweren Fälle, auf der anderen die, die in die Kategorie "Insektenstich" fallen. Oberärztin Jirgal regt sich nicht darüber auf, es sind Patienten – Menschen, mit Schmerzen. Aber: Jeder, der mit einem eingerissenen Fingernagel oder Rückenschmerzen kommt, der binde eben Kapazitäten, sagt sie.

Pfleger und Ärzte am Limit

Jirgal ist nicht die Einzige, die die Situation so einschätzt. Notaufnahmen sind am Limit. Das ist immer wieder von Pflegekräften und Ärzten zu hören, die an vorderster Front arbeiten. Zahlen des Statistischen Bundesamts untermauern das: Wurden im Jahr 2009 noch 14,9 Millionen Patienten in Notaufnahmen behandelt, waren es zehn Jahre später schon 19,1 Millionen. Ein Plus von 28 Prozent. Gleichzeitig haben manche Kliniken in der Corona-Pandemie Personal verloren.

Weniger Ärzte und Pfleger müssen sich folglich um mehr Patienten kümmern. Eine Rechnung, die nicht aufgehen kann. Und die für Patienten aus Sicht mancher Beobachter gefährlich ist. Deshalb haben Pflegerinnen und Pfleger aus Berlin eine Initiative gegründet mit dem Namen "Notaufnahmen retten". Die Gründungsmitglieder Daniel Labes und Stella Merendino fordern unter anderem bedarfsgerechte Finanzierung und verbindliche Personal-Untergrenzen.

Notfallmedizin "vor der Konkursmeldung"

Im BR-Interview vergleichen sie die Arbeit in vielen deutschen Notaufnahmen mit derjenigen "in einem Feldlazarett": "Wenn die Gesellschaft tatsächlich wüsste, wie es läuft, würde alles in Panik verfallen. Allen Leuten kann ich nur eine Sache empfehlen: Werdet bloß nicht krank, habt bloß keinen Unfall. Weil: Ob man so gut versorgt ist, wage ich zu bezweifeln", sagt Pflegerin Stella Merendino.

Die Initiative hat im Februar 2022 eine Online-Umfrage zum Arbeitsalltag in der Notaufnahme gestartet. 800 Beschäftigte aus ganz Deutschland haben mitgemacht, hauptsächlich Pflegekräfte. Die Ergebnisse nennen die Aktivisten "schockierend". Über 90 Prozent der Befragten hätten angegeben, dass das Wohl der Patienten in der aktuellen Situation gefährdet sei. Sie sehen die Notfallmedizin in Deutschland "vor der Konkursmeldung".

Gesundheitsreform soll es richten

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD plant unter anderem wegen solcher Befürchtungen eine große Krankenhausreform. Er will die Kliniklandschaft umbauen, die Finanzierung auf neue Beine stellen. Und die Situation in den Notaufnahmen verbessern.

Künftig soll jeder bei einer Leitstelle anrufen müssen, bevor er in die Notaufnahme geht. Per Telefon sollen Experten Rezepte ausstellen, einen Hausbesuch organisieren oder in eine Praxis überweisen können. So sollen viele Fälle gar nicht mehr in der Notaufnahme landen, hofft die Regierungskommission, die den Vorschlag erarbeitet hat. In der Notaufnahme soll es außerdem ein Praxis-Team der Kassenärztlichen Vereinigung geben. Das soll mit der Notaufnahme zusammenarbeiten und kleinere Fälle abarbeiten. Es ist als eine Art doppelter Boden gedacht, um den Druck rauszunehmen.

Die Notaufnahmen fangen vieles auf

Denn im Moment fangen Ärzte und Pfleger in Notaufnahmen vieles auf. Lange Wartezeiten beim Facharzt führen laut Expertenmeinung dazu, dass Patienten in die Notaufnahme gehen. Hinzukommen viele kranke Menschen über 80, die die Notaufnahmen aufsuchen. Ihre Zahl ist laut Notaufnahmeregister in den vergangenen Jahren überproportional gestiegen. Und dann gibt es noch Leute, die ihre Probleme nicht einschätzen können, die Angst haben. Menschen, die Ärztinnen wie Esther Jirgal weder abweisen wollen noch können, so wie den Mann mit den Nackenschmerzen und dem Insektenstich. Es gilt: Wer da ist, wird behandelt.

Künftig soll allerdings in allen deutschen Notaufnahmen ein Personal-Patienten-Schlüssel eingehalten werden, wie es ihn schon auf anderen Stationen gibt. Schritte, die in die richtige Richtung gehen, finden viele Ärzte und Pfleger. Die Aktivisten von "Notaufnahmen retten" aber fordern zusätzlich Sanktionen für Kliniken, wenn sie sich nicht an die Personaluntergrenze in der Notaufnahme halten. Offen bleibt dabei, woher das Personal kommen soll.

Angst vor Unterversorgung auf dem Land

Parallel dazu greift die Angst vor einer Unterversorgung in ländlichen Gebieten immer mehr um sich. Viele fürchten, dass kleineren Kliniken die Schließung drohen könnte, wenn die Reformpläne des Bundesgesundheitsministeriums umgesetzt werden.

Sie sehen vor, Fachkräfte in größeren Häusern zu bündeln und auf dem Land nur noch eine Basisversorgung anzubieten. Ob das Personal diesen Schritt mitgeht, ob also Pflegekräfte und Ärzte zu größeren Kliniken pendeln oder umziehen, stellen Kritiker der Reformvorschläge infrage.

"Gesunder Menschenverstand" erbeten

In Deggendorf trifft man trotz aller Befürchtungen auf Menschen, die für ihren Job brennen. Auch Pflegerin Lisa Zahn zählt dazu. Sie ist 23 Jahre alt und würde gerne "alt werden" in ihrem Beruf: "Aber wenn man sieht, wie es bei uns den ganzen Tag zugeht, dass du nur läufst und rennst und rennst. Kann ich mir das nicht vorstellen, dass du das in 20 Jahren noch kannst, vom Körperlichen her. Das ist schon hart."

Ärztin Esther Jirgal versteht Kolleginnen und Kollegen, die die Notaufnahme in letzter Zeit verlassen haben. Für sie kommt aber kein anderer Job infrage. Sie hofft auf "gesunden Menschenverstand". Sie wünscht sich, dass sich jeder fragt, bevor er eine Notaufnahme aufsucht, ob es sich wirklich um einen akuten Notfall handelt. Denn eine Reform allein könne die Situation nicht ändern, sagt sie.

Mehr dazu hören Sie im Funkstreifzug-Podcast. Abrufbar ist er zum Beispiel in der ARD-Audiothek.

Dieser Artikel ist erstmals am 3. Mai 2023 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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