Andreas Scheuer im Landtag
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"Für blöd verkauft": Empörung über Scheuers Gedächtnislücken

Die 2. Münchner Stammstrecke wird Jahre später fertig und Milliarden teurer als geplant. Ex-Bundesverkehrsminister Scheuer sagt im Landtag, er habe davon nichts gewusst. Mehrere Abgeordnete sind empört - Schützenhilfe kommt von Minister Wissing.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Andreas Scheuer kann sich nicht erinnern - weder an ein Telefonat im Herbst 2020, in dem ihm die damalige bayerische Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (beide CSU) von den Problemen bei der zweiten Münchner Stammstrecke erzählt haben will, noch an ihre schriftliche Bitte um ein Gespräch zu diesem Thema. "Die Frau Staatsministerin Schreyer hat sehr viele Briefe geschrieben", sagt der Ex-Bundesverkehrsminister im Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags zur Stammstrecke. Dieses konkrete Schreiben habe ihn gar nicht erreicht.

Zwar liegt das Milliardenprojekt dem CSU-Politiker nach eigenem Bekunden schon lange am Herzen, weil es eine Verbesserung für den Raum München "mit Auswirkungen auf alle anderen Regionen Bayerns" verspreche. Von den Kostensteigerungen in Milliardenhöhe und der Verzögerung um Jahre habe er in seiner Zeit als Minister aber nichts gewusst, sondern erst später aus der Presse davon erfahren, versichert Scheuer. Der Bund sei kein Projektbeteiligter, sondern finanziere das Vorhaben nur mit. "Ich bin ja nicht der Bundesminister für die zweite Stammstrecke."

"Wir werden für blöd verkauft"

Während Ausschuss-Vize Jürgen Baumgärtner von der CSU den Ex-Minister mit einem siebenfachen Dank für sein Engagement, seine Leistungen und seine Auskünfte überschüttet, schwanken die Reaktionen anderer Abgeordneter zwischen Fassungslosigkeit und Empörung. Scheuers Erinnerungsvermögen habe scheinbar "mit dem Ende der Dienstzeit vollkommen ausgesetzt", sagt Albert Duin von der FDP. Der CSU-Politiker habe keine vernünftige Antwort gegeben und sich angeblich für die Finanzierung nicht interessiert. "Das macht mich verrückt!"

Markus Büchler (Grüne) bezeichnet Scheuers Auftritt als "erschreckend". Dass der Minister von Schreyers Schreiben nichts "mitbekommen haben will und dass er sich an nichts erinnern kann", sei "überhaupt nicht glaubwürdig". Er sei sehr gespannt auf weitere Zeugenaussagen, insbesondere die Antworten von Ex-Ministerin Schreyer. SPD-Politikerin Inge Aures sagt dem BR: "Wir werden hier im Landtag für blöd verkauft."

Ausschuss-Vorsitzender: "Sprachlos"

Nicht präsent hat Scheuer auch die Kritik des Bundesrechnungshofs am Stammstrecken-Projekt. Die Prüfer der Bundesbehörde hatten die Nutzen-Kosten-Untersuchung (NKU) kritisiert und konstatiert, dass das Mammutprojekt nicht wirtschaftlich und damit auch nicht förderfähig sei. "Der Bundesrechnungshof gibt sehr gerne und intensive Vorgaben", stellt der Ex-Minister ganz grundsätzlich fest. Die Berichte könne "man so und so sehen". Zugleich berichtet er launig, wie er 69,90 Euro im Zusammenhang mit E-Scootern zurückgezahlt habe.

Der Ausschussvorsitzende Bernhard Pohl (Freie Wähler) zeigt sich hinterher erstaunt: "Wenn ein Bundesrechnungshof hier Kritik anmeldet, dann ist das keine Petitesse." Scheuer könne sich an 69,90 Euro erinnern, aber nicht an die Kritik an einer Milliardeninvestition ohne rechtliche Grundlage. "Dann lässt mich das einigermaßen sprachlos zurück."

Wissing: Verantwortung liegt beim Freistaat

Scheuers Nachfolger an der Spitze des Bundesverkehrsministeriums, Volker Wissing (FDP), verweist in seiner Aussage darauf, dass wesentliche Entscheidungen zur Stammstrecke weit vor seiner Zeit gefallen seien. Grundsätzlich sieht er die bayerische Staatsregierung in der Verantwortung: Es sei ein Projekt in der Zuständigkeit des Freistaats, Vertragspartner sei ausschließlich die DB Netz AG. Die Überwachung der Zeit- und Kostenpläne sei ausschließlich Aufgabe des Auftraggebers. Die Arbeit des Bundesministeriums beschränke sich darauf, die Voraussetzung für eine Förderung zu prüfen.

Erstmals habe er sich damit befasst, als er sich auf ein geplantes Kennenlerngespräch mit Ministerpräsident Markus Söder (CSU) im Juni 2022 vorbereitet habe. Dabei sollte es laut Wissing grundsätzlich um Infrastrukturprojekte in Bayern gehen. Als dann unmittelbar vor dem Treffen in Medien von einem "Krisengipfel" zur Stammstrecke die Rede gewesen sei, sei er irritiert gewesen, betonte der FDP-Politiker. Ein Kennenlerngespräch sei etwas völlig anderes als ein Krisengipfel - dieser Widerspruch habe ihn zur kurzfristigen Absage des Termins veranlasst.

Wissings Fundstück: Hinweis auf Gespräch Scheuers

Ganz zum Schluss seiner Befragung hat Wissing dann für die Ausschussmitglieder noch eine Überraschung in Sachen Scheuer. Der FDP-Politiker hat in Vorbereitung auf seine Zeugenaussage in seinem Haus nachforschen lassen: Dabei wurde ein Hinweis auf ein Gespräch Scheuers mit Schreyer über die Stammstrecke gefunden: Anhand einer E-Mail lasse sich "der Inhalt des Gesprächs rekonstruieren", schildert Wissing.

Eine Mitarbeiterin habe im Oktober 2020 in ihrer E-Mail an das Büro des damaligen Ministers Scheuer auf "den heutigen Austausch" zwischen Scheuer und Schreyer über die Stammstrecke Bezug genommen. Und sie habe die gleiche Anlage zur Stammstrecke verschickt, die Schreyer einen Tag später ihrem Brief nach Berlin beigelegt habe - jenem Brief, den Scheuer angeblich nicht erhalten hat.

"Nicht die Wahrheit gesagt"

Den Grünen-Abgeordneten Martin Runge überrascht dieser Widerspruch zu Scheuers Angaben nicht. "Er hat mit Sicherheit mit Schreyer über die Stammstrecke geredet", betont er. Es gebe in Aktenvermerken zahlreiche Hinweise auf Vorstöße bayerischer Minister. Daher sei schon sehr erstaunlich, "dass sich Herr Scheuer nicht daran erinnern kann und will".

Aures sieht in Wissings Information den Beleg dafür, dass Scheuer "nicht die Wahrheit gesagt hat". Der Ausschuss werde die E-Mail als Beweismittel anfordern, kündigt sie an und betont: "Das ist ein Kracher."

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