Das Seniorenheim Ebnerstraße in Augsburg
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"Das war ein Gefängnis": Massive Pflegemängel in Augsburger Heim

Vier Monate nach Schließung der Seniorenresidenz Schliersee belegen BR-Recherchen: Auch im Augsburger Heim des Trägers gibt es massive Pflegemängel. Wieder geht es um unversorgte Wunden, falsche Medikamente, zu wenig Essen und Trinken und um Gewalt.

"Albtraum" ist das erste Wort, das Nico in den Kopf schießt, wenn er an das Seniorenheim Ebnerstraße in Augsburg denkt. Nico war Pflegehelfer dort. Nach den Berichten zur Seniorenresidenz Schliersee hat er sich an BR Recherche gewendet, denn beide Heime haben denselben Träger und laut Nico dieselben Probleme. Wie in der inzwischen geschlossenen Einrichtung am Schliersee, erzählt er, hatten Bewohner in der Augsburger Einrichtung etwa meist Hunger, weil es zu wenig zu essen gab.

  • Zum aktuellen Artikel "Skandalheim Augsburg: Ruf nach Konsequenzen wird laut"

Nico kommt aus einem Kriegsgebiet, ist als Kind zu Fuß nach Deutschland geflüchtet. Was er in dem Augsburger Heim gesehen hat, wird er nie vergessen: "Das war einfach kein Altenheim, das war ein Gefängnis."

Nico heißt eigentlich anders. Er ist einer von 14 Ex-Mitarbeitern des Heims, mit denen BR-Reporterinnen gesprochen haben. Sie alle haben Angst und wollen anonym bleiben. Sie alle schildern vergleichbare, schwere Missstände. Es sind Missstände, von denen auch bayerische Behörden wissen.

Medizinischer Dienst: Bewohner zu Schaden gekommen

Im Oktober 2021 kommt der Medizinische Dienst (MD Bayern) unangemeldet ins Heim. Die Prüfer wählen neun Bewohner für ihre Stichprobe aus. Das Ergebnis: Die Senioren bekommen teils zu wenig Essen und Trinken, einige sind ungepflegt und ungewaschen. Auch bei Medikamenten gibt es Defizite: Die Prüfer stoßen auf falsche oder fehlende Arzneimittel.

Sie entdecken bei einem Patienten eine unversorgte Wunde, bei einem weiteren Schwellungen an den Unterschenkeln und verfärbte Füße. Die gravierenden Mängel sind aus Sicht der Prüfer nicht nur gefährlich für die Bewohner, sondern haben bereits Schäden verursacht. Das nichtöffentliche Protokoll liegt dem BR vor. Das Fazit: Die Pflege in dem Heim sei noch nicht sichergestellt.

Grafische Darstellung von Pflegekräften bei einer Seniorin, montiert vor dem Gebäude des Seniorenheims Ebnerstrasse in Augsburg im Hintergrund
Bildrechte: BR, Grafik: Dorit Lang-Steggewentz, Montage: BR
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BR-Recherchen belegen: Auch in einem Augsburger Heim gibt es massive Pflegemängel

Drastische Verschlechterung binnen drei Monaten

Anfang Januar prüft der Medizinische Dienst das Heim erneut, auch dieser Bericht liegt dem BR vor: Die Prüfer protokollieren 22 sogenannte D-Bewertungen. Das steht für "Defizite mit eingetretenen negativen Folgen für die versorgte Person". Bei der Prüfung im Oktober waren es noch zwölf.

Es sind Mängel wie diese: "Die versorgte Person hat sehr lange Zehennägel, die sich bereits nach unten wölben." / "Der Umgang mit dem Blasendauerverweilkatheter entspricht nicht den hygienischen Anforderungen." / "Es besteht die Gefahr, dass die zu versorgende Person nicht alle verordneten oralen Medikamente erhält."

Die Prüfer sehen "Handlungsbedarf".

Ex-Mitarbeiter erheben weitere schwere Vorwürfe

Mehrere frühere Mitarbeiter berichten dem BR übereinstimmend von vertuschten Pflegefehlern. An eine alte Frau denkt Nico jeden Tag, sagt er: "Sie saß nackt auf ihrem Rollator, tot. Überall war Toilettenpapier, überall Durchfall, Urin, Erbrochenes." Die Bewohnerin war am Rotavirus erkrankt. Nico und frühere Kollegen schildern unabhängig voneinander, dass der Körper der Seniorin auf Anweisung gesäubert und ins Bett gelegt wurde.

Auch in einem anderen Fall decken sich die Schilderungen: Eine Wunde eines Heimbewohners soll nicht versorgt worden sein, woraufhin sich Maden bildeten. Das betroffene Bein musste schließlich amputiert werden, sagen die Ex-Mitarbeiter übereinstimmend. Auch hier seien sie angewiesen worden, das Zimmer zu reinigen und Schweigen zu bewahren.

Das Heim bestreitet derartige Fälle auf BR-Anfrage und weist massive Pflegemängel von sich. Beide Vorfälle seien nicht bekannt. Das Wohl der Bewohner habe "absolut höchste Priorität". Das Personal arbeite "gewissenhaft".

Pflegewissenschaftlerin: "Für mich ist das Schliersee II"

Für die Professorin Martina Hasseler von der Ostfalia Hochschule sind die Berichte und Fotos von Ex-Mitarbeitern Belege dafür, dass die Pflege in dem Seniorenheim Ebnerstraße "schlecht, gefährlich und vernachlässigend" war. Die Pflegewissenschaftlerin kritisiert außerdem die Aufsichtsbehörden. Sie hätten eingreifen müssen, gerade weil Missstände in der Seniorenresidenz Schliersee bekannt gewesen seien. "Bei diesem Prüfergebnis hätten sofort alle Alarmglocken des Medizinischen Dienstes angehen müssen, und auch der Heimaufsicht. Ihnen hätte sofort bewusst sein müssen, dass Schliersee II droht und sie hätten mehr Druck auf die Einrichtung ausüben müssen. Das ist nicht geschehen."

Heime in Schliersee und Augsburg eng verbunden

Betreiber des Seniorenheims Ebnerstraße ist die S.O.Nursing Homes GmbH. Sie gehört zu Sereni Orizzonti, einem Konzern, der in Italien immer wieder Negativschlagzeilen macht. Die Firma betrieb auch die inzwischen geschlossene Seniorenresidenz Schliersee. Dieses Heim beschäftigt derzeit zwei Staatsanwaltschaften, die Zentralstelle zur Bekämpfung von Korruption und Betrug im Gesundheitswesen (ZKG) in Nürnberg sowie die Staatsanwaltschaft München II. Es geht um den Verdacht auf Abrechnungsbetrug und um mutmaßliche Körperverletzungsdelikte an 88 Bewohnern sowie 17 Todesfälle.

  • Zum Artikel "Skandalheim vom Schliersee: Fragen und Antworten"

Rund 20 ehemalige Bewohner der Seniorenresidenz Schliersee sind in das Augsburger Heim gezogen. Der Träger hatte im Vorfeld mit Rabatten geworben, entsprechende Schreiben liegen dem BR vor. Auch das Personal ist teils identisch: Der derzeitige Heimleiter in Augsburg war über Monate hinweg für die Seniorenresidenz Schliersee verantwortlich. Außerdem sind einige Mitarbeiter nach BR-Informationen nach Augsburg gewechselt.

Aufsichtsbehörden halten sich bedeckt

Seit Mai 2021, schreibt die Fachstelle Pflege- und Behinderteneinrichtungen - Qualitätsentwicklung und Aufsicht (FQA), werde das Seniorenheim Ebnerstraße intensiv mit Beratungen begleitet. Angesiedelt ist die Heimaufsicht bei der Stadt Augsburg. Wie oft die Heimaufsicht kontrollierte, beantwortet die Stadt Augsburg nicht. Sie verweist darauf, dass Kontrollbesuche unangekündigt stattfinden.

Doch wie im Fall der Seniorenresidenz Schliersee berichten frühere Mitarbeiter, dass die Heimleitung vorab wusste, wann die Heimaufsicht und der Medizinische Dienst zur Kontrolle kommen würden. Dann wurde das Heim für die Prüfer vorbereitet, sagen sie.

Die Regierung von Schwaben als direkte Aufsichtsbehörde der Heimaufsicht bestätigt auf Anfrage die Missstände in dem Heim: Diese seien bekannt, die Zuständigkeit aber liege bei der Heimaufsicht. Und die oberste Aufsichtsbehörde, das bayerische Gesundheitsministerium, gibt an, man habe sich an Prüfungen beteiligt: "Aufgrund der besonderen Situation, insbesondere der Aufnahme zahlreicher Bewohner aus der Einrichtung in Schliersee, war dies aus Sicht des Ministeriums geboten." Wie oft Mitarbeiter des Ministeriums vor Ort waren, schreibt die Pressesprecherin nicht, auch nicht, ob Konsequenzen gezogen wurden.

Zukunft des Seniorenheims in Augsburg offen

Die Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassenverbände Bayern (ARGE) hat dem Heim im November gedroht, den Versorgungsvertrag zu kündigen, wenn die Mängel nicht bis zum Jahresende beseitigt würden. Auf BR-Anfrage heißt es jetzt von der ARGE: "Eine abschließende Beurteilung und Festlegung der vertragsrechtlichen Konsequenzen steht noch aus."

Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler sieht in dem Fall Seniorenheim Ebnerstraße einen Beleg für ein systemisches Aufsichtsversagen. Sie fordert, Heime müssten besser kontrolliert, vor allem aber müssten rascher Konsequenzen gezogen werden. "Was nützen uns diese Prüfsysteme, wenn sie nicht die Menschen schützen? Und hier sehe ich auch eine Verantwortung des Staates. Wenn sie davon erfahren, dass Menschen leiden und Schaden, erfahren, dass sie dann intervenieren, um Menschen zu schützen."

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