Die Einigung auf den Koalitionsvertrag zwischen CSU, CDU und SPD erfolgte nach einer Marathonsitzung in der Nacht auf Mittwoch in Berlin. Darauf spielte auch die erste Frage von BR-Chefredakteur Christian Nitsche an Horst Seehofer an:
Christian Nitsche: Die Ursache für Sekundenschlaf ist Müdigkeit, aber ist auch eine bequeme Sitzhaltung und monotone Bildeinrücke. Hat Sie es auch erwischt?
Horst Seehofer: Nein jedenfalls hab ich nichts gemerkt. Aber Sekundenschlaf ist ja dadurch gekennzeichnet, dass man es als Betroffener oft gar nicht merkt. Aber ich hatte keine Schwierigkeiten. Ich will mich nicht als Übermensch darstellen, aber ich habe trotz einer durchgearbeiteten Nacht und am nächsten Tag auch noch mal, keine Probleme mit meiner Fitness gehabt.
Szenen der letzten Verhandlungsnacht
Und andere? Sind die eingeschlafen?
Ja, da gab's manche, die schon länger abgeschaltet haben, und andere in dem berühmten Sekundenschlaf. Aber Namen nenne ich nicht.
Welche Szenen haben sich denn eingeprägt? Vielleicht auch aus der letzten Verhandlungsnacht? Was sind Sprüche, die man nicht vergisst?
Die letzte Verhandlungsnacht begann ja durch die Feststellung der SPD, wir wollen das Auswärtige Amt, das Finanzministerium und das Sozialministerium, sonst gibt es keine Regierung. Und wir haben dagegen gehalten, dass wir sagten, wir brauchen das Finanzministerium, dann kann die SPD wieder wählen. Darauf sind sie nicht eingegangen. Das war der Beginn, dass von 16 Uhr bis 6 Uhr in der Früh nur über diese Frage gesprochen wurde. In der Zeit hat man viele Personen überhaupt nicht mehr angetroffen. Die gingen in andere Räume und haben sich auf den Boden gelegt.
Auf den Boden gelegt und da geschlafen. Minister?
Und Höhere …
Was heißt das? Die Kanzlerin?
Ministerpräsidenten zum Beispiel … Und dann gibt es den Versuch der bilateralen Beziehungen. Dann verbleiben in dem Zimmer vier fünf Personen, die aber nicht miteinander reden, weil keiner eine Lösung hat und weil man unterschiedlicher Meinung ist.
Mandarine schälen als Verhandlungstaktik
Ich habe dann gerne eine Mandarine oder eine Orange geschält, weil das wenigstens eine Betätigung war, ohne dass man begründen muss ...
Wie muss man sich das vorstellen? Sie sitzen am Tisch, schälen Mandarine und man schweigt sich an. Stundenlang?
So ist das ja. Das war so. Wenn jemand etwas anderes erzählt, dann sagt er nicht die Wahrheit. So ging das die ganze Nacht. Da kann man natürlich sagen: 'Muss das so sein?' Aber es war eine sehr, sehr spannende Situation, wenn ein Koalitionspartner sagt 'sonst gibt es keine Koalition'. Das müssen Sie ernst nehmen. Und wir waren ja auch der Meinung, wenn wir unsere Wünsche nicht erfüllt bekommen, gibt's auch keine Koalition.
Das ist wie im praktischen Leben. Das dauert dann viele Stunden, bis auch erwachsene Menschen allmählich den Schalter umlegen und sich wieder vernünftig verhalten. Wir wussten so ungefähr um 6 Uhr in der Früh: So kann es nicht weitergehen. Denn, wenn die Koalition scheitert, weil man sich nicht über die Vergabe der Posten verständigen kann, hätte das für alle Parteien einen riesigen Schaden über Jahre ausgelöst. Das war uns dann bewusst: der SPD, der CDU und uns, der CSU, auch. Dann haben wir uns als CSU zurückgezogen und überlegt: Wie kommen wir aus dem Dilemma heraus? Es drehte sich ja immer um die CSU.
Der Innenminister und die Flüchtlinge
Sie sagen ja jetzt: Innenminister große Klasse! Wir können dann bestimmen, was die Obergrenze tatsächlich ist. Aber Sie wollten eigentlich etwas anderes werden. Also war es doch eher so eine Notlösung?
Ja, die ersten Stunden, viele Stunden ging es um die Frage: Darf ein Koalitionspartner sagen, bevor wir überhaupt verhandeln, welche Ministerien – es gibt ja glaub ich 16 an der Zahl – teilen wir Euch mit: Wir wollen die drei und erst dann könnt Ihr aussuchen, was Ihr bekommt. Deshalb haben wir gesagt: Die CSU ist auch interessiert am Finanzministerium, auch interessiert am Sozialministerium, am Auswärtigen Amt.
Die Kanzlerin hat dann mir die Frage gestellt: Wenn Ihr das bekommt, besetzt Ihr es dann auch? Und dann hab ich gesagt: Ja, und zwar durch den Parteivorsitzenden der CSU. Aber die SPD hat nicht nachgegeben, sie hat gesagt: 'Wir haben einen Mitgliederentscheid, wir kommen nicht über den Mitgliederentscheid. Das ist Identität der SPD. In früheren großen Koalitionen war es auch schon so, dass wir das Auswärtige Amt, das Finanzministerium und das Sozialministerium hatten.' Und daran hat sich das festgebissen.
Die Kanzlerin hat uns am Anfang sehr unterstützt, aber war dann mit fortgeschrittener Zeit schon auch der Meinung, so können wir jetzt nicht weitermachen, weil dann platzt die Koalition, und draußen von der Bevölkerung versteht es niemand. Und das war dann der Überlegungsprozess, dass wir gesagt haben: Wenn die SPD drei Minister verlangt, verlangt die CSU auch drei.
Wie soll das denn eigentlich sein: Wenn Sie Innenminister sind. Sagen wir mal, es gibt wieder eine Flüchtlingskrise und es taucht die Frage auf: Grenzen offen halten? Richtlinienkompetenz der Kanzlerin auf der einen Seite, Ressortkompetenz, Bundespolizei und damit Zuständigkeit für Grenzschutz bei Ihnen. Wer hat denn da das letzte Sagen?
Ja, der Innenminister ist hauptverantwortlich für diese Frage. Ein Kontrollverlust würde mit mir nicht mehr stattfinden. So wie es 2015 war. Aber so wie das Verhältnis zwischen der Bundeskanzlerin und mir ist, glaub ich, bedarf es der Anwendung der Richtlinienkompetenz überhaupt nicht. Wir würden uns schon verständigen.
Sie hätten in der damaligen Situation die Grenzen dichtgemacht?
Ja. Das ist die einzige Lösung, dass man an der Grenze entscheidet, wer kann das Land betreten, wer hat einen Schutzbedarf? Wenn der Mensch dann nicht einverstanden ist, braucht er natürlich in einem Rechtsstaat natürlich die Möglichkeit, vor ein Gericht zu ziehen aber auch vor Ort. Und wenn der Schutzbedarf auch vom Gericht nicht bejaht wird, muss diese Persönlichkeit wieder zurück in ihr Herkunftsland. Das wäre meine Strategie gewesen. Und es wäre auch, sollte sich die Situation wiederholen, auch in der Zukunft die Strategie.
Am besten ist es, an der Grenze zu entscheiden, wer unser Land betreten darf. Wenn die Menschen mal einige Jahre hier sind, weiß ich aus meiner zehnjährigen Erfahrung jetzt als Ministerpräsident, ist kaum noch eine Möglichkeit, die Menschen wieder in ihre Heimatländer zurückzuführen. Sie schlagen Wurzeln, sie ergreifen einen Beruf, sie schließen Partnerschaften, sie sind krank, sie ziehen vor Gericht. Es ist kaum noch möglich, nach einigen Jahren, Menschen wieder zurückzuführen.
Kompetenzen zwischen Bayern und Bund
Wie stimmen Sie sich denn eigentlich ab dann mit Bayern? Da gibt's dann den neuen Ministerpräsidenten, der mitreden will, dann gibt's Joachim Herrmann als Innenminister, der mitreden will. Wer hat denn da jetzt da die Kompetenz?
Reden miteinander. Der bayerische Ministerpräsident der Zukunft hat natürlich die Interessen seines Landes, des Freistaats Bayern, wahrzunehmen. Dazu gibt's wahrscheinlich einen Innenminister Joachim Herrmann. Und die Bevölkerung erwartet doch, dass wir in solchen Fällen, miteinander reden und gemeinsam eine Lösung finden.
Man darf in der Politik nicht immer davon ausgehen, dass Hierarchie herrscht. Dass einer das Sagen hat und alle anderen zuzuhören haben und nur Befehle auszuführen haben. Man muss sich miteinander verständigen, und ich glaub, das werden wir schaffen.
Was war denn jetzt das verbindende Element am Ende? War das die Angst vor Neuwahlen? Die Angst vor einer Beschädigung? Die Angst vor der AfD? oder ging'sd arum, wir müssen unsere Posten retten?
Nein, das glauben zwar viele Menschen nicht, dass es nicht primär um die Posten geht und nicht primär um die Angst vor Wahlen, sondern es war die Sorge vor der Selbstbeschädigung.
Stellen Sie sich mal vor, Sie sollen nach fünf Monaten, fünf Monate nach der Wahl, eine Regierung bilden, haben den Koalitionsvertrag praktisch fertig, 177 Seiten, Sie haben sich in allen Inhalten geeinigt, und dann treten Sie vor die Öffentlichkeit und müssen die Unfähigkeit mitteilen: Wir waren jetzt nicht in der Lage, die Ministerien untereinander aufzuteilen. Wissen Sie, was die Folge wäre? Dass CDU, CSU und SPD in den Umfragen in den Keller sausen würden. Das versteht nämlich kein Mensch, dass der Kampf um Posten zum Scheitern einer Regierung führt.
Was die Menschen vielleicht auch schwer verstehen, immer wieder nicht verstehen: Da gibt es einen ganz heftigen Kampf zwischen den Parteien. Da heißt es, in den Verhandlungen war der Herr Seehofer auch mal zornig. Da heißt es, die Frau Nahles sei auch mal weinend rumgelaufen. Da gibt es ja Beschädigungen. Und danach tritt man dann als Team auf?! Manche sagen, das ist doch ein großes Schauspiel.
Ja, in der Politik wirken auch ganz normale Menschen wie Sie und andere. Mit all den Leidenschaften und Emotionen, die wir aus dem Privatleben kennen. Warum soll jemand mal nicht zornig werden. Das passiert bei mir ab und zu. Warum soll jemand mal nicht heulen, wenn ein Lieblingsthema einfach nicht einigungsfähig ist. Ich finde, das ist Normalität.
Politiker sind doch keine Roboter, die keine Gefühle zeigen dürfen. Vielleicht sind wir selber schuld, weil wir immer glauben, wir sind Übermenschen oder immer das sagen in der Öffentlichkeit. Wir sollen fehlerlos sein, wir dürfen keine Gefühle haben, wir müssen funktionieren wie ein Roboter auf Knopfdruck – das ist doch alles nicht Lebenswirklichkeit. Und darum kommt so was auch in einer Koalitionsverhandlung vor.
Merkel über den Tisch gezogen?
Jetzt gibt es Leute in der CDU, auch hochrangige, die sagen: Die CDU hat nicht gut verhandelt. Haben Sie die Merkel über den Tisch gezogen bei den Kabinettsposten? Sie lächeln ...
Also, man kann der CSU nicht vorhalten, wenn sie gut verhandelt hat. Das ist meine Aufgabe.
Aber wie ist jetzt das Verhältnis zur Frau Merkel?
Gut, gut. Mein Gott, sie hat der SPD diese Ministerien zugestanden. Sie hat dann uns das Innenministerium zugestanden, das wir bisher nicht hatten, und Verkehrsministerium plus Entwicklungshilfeministerium. Ich kann doch nicht sagen, nur damit es in der CDU keine Schwierigkeiten gibt, verzichte ich auf ein Ministerium. Das ist doch meine Aufgabe für Bayern und als Parteivorsitzender, möglichst viel rauszuholen.
In der CDU grummelt's, aber ich finde das auch etwas überzogen: Sie haben jetzt den Finanzminister nicht mehr, aber dafür haben sie den Wirtschaftsminister, den sie jahrzehntelang nicht hatten.