Pfarrer Klaus Spyra steht vor der Kanzel der evangelischen Kirche in Willmars, hinter ihm ein Steinaltar mit einem Kreuz.
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Klaus Spyra ist evangelischer Pfarrer geworden, obwohl er von einem evangelischen Diakon sexuell missbraucht wurde.

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Schläge und sexueller Missbrauch im Evangelischen Kinderheim

Klaus Spyra wuchs in einem evangelischen Kinderheim in Willmars in Unterfranken auf. Heimleiter war ein evangelischer Diakon, der ihn und andere Kinder regelmäßig missbrauchte, wie Spyra sagt. Die Kirche sucht nun weitere Betroffene.

Eine malerische Landschaft, ein idyllisches Dorf: Willmars im unterfränkischen Landkreis Rhön-Grabfeld. Für Klaus Spyra ist dies ein Ort der Gewalt. Von 1969 bis 1973 lebte Spyra hier vier Jahre lang im Evangelischen Kinderheim. Prügel waren an der Tagesordnung, erinnert er sich.

Und nach den Prügeln folgte das Schlimmste: Der damalige Heimleiter, ein evangelischer Diakon, habe ihn und andere Kinder sexuell missbraucht – wöchentlich. Mehr als zwei Jahre lang, wie er sagt: Kinder hätten nachts geschrien. Am nächsten Morgen hätte man den Betroffenen daran erkannt, "dass er nicht im Sitzen frühstücken konnte".

Niemand half den Kindern

Der Heimleiter habe ihn mehr als 200 Mal missbraucht, sagt Spyra. Die Tür im Flur sei dabei stets offen gewesen. Doch nie sei jemand zur Hilfe gekommen. Eines Tages habe er sich dem Pfarrer der Gemeinde anvertraut. Daraufhin sei er auch vom Gemeindepfarrer verprügelt worden. "Und mit diesem Augenblick habe ich überhaupt nicht mehr davon geredet", sagt Spyra.

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Vom Missbrauchsopfer zum Pfarrer

Klaus Spyra hat den sexuellen Missbrauch verdrängt, sagt er, über Jahrzehnte hinweg. Die erlebten Schläge, die Demütigungen und die Machtlosigkeit waren es aber, die ihn dazu brachten, selbst Pfarrer zu werden.

"Ich bin Pfarrer geworden, weil ich zeigen wollte: Nicht alle Christen sind so. Dass das in meinem Verantwortungsbereich nicht passiert. Und wenn ich so etwas höre, dass ein Kind zum Beispiel zum Essen gezwungen wird im Kindergarten durch eine Erzieherin, dann mache ich mich sofort auf die Hinterbeine, dass ich dem nachgehe und erst einmal dem Kind glaube." Klaus Spyra, Opfer sexuellen Missbrauchs und Pfarrer

Schmerzvolle Verarbeitung der Vergangenheit

Heute ist Klaus Spyra im frühen Ruhestand - wegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sein Leid wurde 2015 anerkannt. Die Evangelische Landeskirche zahlte ihm 20.000 Euro und finanziert ihm demnächst 20 Trauma-Therapiestunden. Nachdem bei Spyra inzwischen weitere Erinnerungen hochgekommen sind, seien auch weitere Anerkennungsleistungen möglich, so die Kirche. Doch was ist mit all den anderen Kindern aus dem Heim?

Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Evangelischen Kirche

Obwohl Klaus Spyra bereits vor Jahren auf mögliche andere Betroffene aufmerksam gemacht hatte, kann weder die Evangelische Kirche noch die Diakonie als aktueller Träger des Kinderheims etwas über die Betroffenen sagen. Genauso wenig darüber, ob es noch Akten aus der Zeit gibt, wie Stefan Reimers, Ständiger Vertreter des Landesbischofs, einräumt.

Der Fall liege weit zurück, so Reimers: "Viele derer, die damit möglicherweise zu tun gehabt haben oder in dieser Zeit auch dort tätig gewesen sind, sind verstorben und nicht mehr aufzufinden." Eigene Akten gäbe es auch keine mehr in der Landeskirche. Reimers hofft, dass sich weitere Betroffene melden: "Wir freuen uns darüber, wenn Menschen, die dort gewesen sind - möglicherweise auch in der selben Zeit - sich bei uns melden. Möglicherweise haben sie ähnliches erlebt oder sind Zeuge oder Zeugin von Taten geworden."

Erinnerungen verfolgen die Opfer

Erst ein Wechsel der Heimleitung erlöste die Kinder von ihrem Leid durch sexuellen Missbrauch. Doch die Erinnerungen aus der Zeit davor verfolgen Spyra noch heute täglich. Die Kirche, sagt Spyra, müsse mehr tun: "Ich hab meinen Frieden gemacht. Aber aufarbeiten müssen nicht die Betroffenen, aufarbeiten muss die Kirche."

Mehr über die Geschichte von Klaus Spyra erfahren Sie in STATIONEN am Mittwoch, den 22. Juni, um 19 Uhr im BR Fernsehen und in der BR Mediathek.