- Direkt zum aktuellen Artikel: Marx entschuldigt sich erneut bei Missbrauchsbetroffenen
Zu wenig sei passiert, finden viele, die als Kinder oder Jugendliche durch katholische Geistliche missbraucht worden sind. Einer von ihnen ist Rolf Fahnenbruck, der als Kind im Bistum Essen schwerste sexualisierte Gewalt erlebt hat und heute im Bistum Passau lebt. Er ist Sprecher des dortigen Betroffenenbeirats.
Für sein Leid wurde er bislang mit 25.000 Euro entschädigt – aber ums Geld gehe es nicht, sagt er im Gespräch mit BR24, denn auch mit dem Leistungsbescheid stehe ein Missbrauchsbetroffener mit seinem Problem wieder alleine da. "So kann man mit Menschen nicht umgehen", findet Fahnenbruck: "Viele Menschen sind maßlos enttäuscht von der katholischen Kirche."
Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Gutachtens zu Fällen von sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising will Erzbischof Kardinal Reinhard Marx darüber informieren, was seither geschehen ist. BR24live überträgt ab 11 Uhr.
Betroffene fühlen sich alleingelassen
Insgesamt kritisieren Betroffene die Grundlogik des Anerkennungsverfahrens, nach der sich die Opfer um alles selbst kümmern müssen, um zu ihrem Recht zu kommen. So sei für Betroffene etwa nach wie vor "völlig intransparent", warum sie in welcher Höhe Leistungen erhalten, kritisiert Richard Kick, Sprecher des Betroffenenbeirats der Erzdiözese München und Freising im Gespräch mit BR24.
Bei der Antragstellung seien die Betroffenen überdies völlig auf sich allein gestellt. Ebenso bei der Forderung nach Akteneinsicht. "Dieser Kampf: Darf ich die Akten einsehen? Diese wochen- und monatelange Wartezeit darüber, ob es genehmigt wird oder nicht, das ist unerträglich", beschreibt Kick.
Viele warten auf persönliche Entschuldigung durch Kardinal Marx
Im Vorfeld der heutigen Pressekonferenz haben Betroffeneninitiativen deutlich gemacht, wo sie außerdem Nachholbedarf sehen: Viele wünschten sich nach wie vor eine persönliche Entschuldigung durch Kardinal Reinhard Marx, so Kick. Dieser habe immerhin nach der Veröffentlichung des Münchner Gutachtens betont, dass er sich in der institutionellen Verantwortung sehe.
Personelle Konsequenzen hatte das Gutachten einzig für den damaligen Münchner Offizial, Prälat Lorenz Wolf. Dieser nahm in der Folge der Veröffentlichung seinen Hut als oberster Kirchenrichter des Erzbistums und als Leiter des Katholischen Büros Bayern.
Fehlverhalten von Erzbischöfen im Umgang mit Verdachtsfällen
Die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl hatte in dem umfangreichen Gutachten den Umgang der Verantwortlichen im Erzbistum München und Freising mit Fällen von Missbrauchsverdacht durch kirchliche Mitarbeiter seit 1945 untersucht. Das Fazit: Mehrere Verantwortliche in der Leitung des Erzbistums haben sich in den vergangenen Jahrzehnten im Umgang mit Missbrauchsfällen falsch verhalten und somit "Beihilfe zum sexuellen Missbrauch" geleistet.
Konkret stellte das Gutachten Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchstätern beim Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, fest, sowie bei seinen beiden Amtsvorgängern, Kardinal Friedrich Wetter und Kardinal Joseph Ratzinger, dem kürzlich verstorbenen emeritierten Papst Benedikt XVI.. So habe etwa Kardinal Reinhard Marx in drei Fällen rechtsfehlerhaft oder zumindest unangemessen gehandelt, als ihm Missbrauchsverdachtsfälle bekannt wurden.
Erzbistum sucht Kontakt zu Betroffenen
Tatenlos ist das Erzbistum seit der Veröffentlichung dieser Fakten nicht geblieben. In mehreren Veranstaltungen wurden Betroffene gehört, es gab Kunstprojekte und einen Tag der Begegnung mit Betroffenen. In der Gemeinde Unterwössen, wo ein Priester vor Jahrzehnten Kinder und Jugendliche missbraucht hatte, wurde ein eigener Gedenkort eingerichtet, der an den Missbrauch und das Leid der Opfer erinnern soll.
Tatsächlich unterstütze die aktuelle Leitung der Münchner Bistumsverwaltung die Zusammenarbeit mit dem Betroffenenbeirat spürbar, sagt Kick vom Münchner Betroffenenbeirat. 57 neue Fälle sind seit dem Missbrauchsgutachten bei den Beauftragten des Erzbistums gemeldet worden. Dabei handelt es sich teilweise um bereits durch mediale Berichterstattung bekannt gewordene Fälle.
Ansprechpartner in allen Bistümern Bayerns
Außerdem gibt es inzwischen eine Hotline, an die sich Betroffene mit ihrer Geschichte wenden können. Mittlerweile arbeiten die Anlaufstellen aller bayerischen Diözesen vernetzt miteinander.
In München steht Betroffenen zudem ein eigener Seelsorger zur Seite, der selbst Missbrauch erlebt hat. Eine bayernweite staatliche Ombudsstelle für Missbrauchsopfer, wie sie sich viele Betroffene wünschen, gibt es aber zum Beispiel immer noch nicht.
Betroffene fordern staatliche Aufarbeitung
Der Freistaat hatte in der Vergangenheit mehrfach betont, die Verantwortung für die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen im kirchlichen Kontext liege bei den Kirchen. CSU-Justizminister Georg Eisenreich hatte sich aber bei einem Treffen mit Betroffenen kürzlich in München offen für die Idee einer staatlichen bayernweiten Ombudsstelle gezeigt.
Es brauche ein flächendeckendes Hilfsangebot für Missbrauchsbetroffene, fordert Kick: "Dass Betroffene nicht nach München oder in die Großstadt fahren müssen, um Hilfe zu bekommen." Auch der Staat müsse sich seiner Verantwortung stellen: "Es geht konkret darum, dass auch der Staat die Bücher öffnet, die Archive öffnet und sich da hineinschauen lässt." Dabei gehe es etwa um mögliche Versäumnisse in den 1950er und 1960er Jahren in der Heim- und Schulaufsicht.
Friedrich Wetter, Joseph Ratzinger und der Fall Peter H.
Auch Kardinal Friedrich Wetter, der Amtsvorgänger von Kardinal Marx auf dem Münchner Bischofssitz (von 1982 bis 2008), wurde durch das WSW-Gutachten vor einem Jahr wegen seines Umgangs mit Missbrauchsverdachtsfällen belastet: Er sei in 21 Fällen rechtsfehlerhaft, zumindest aber unangemessen mit Verdachtsfällen umgegangen. Nach Stellungnahmen Wetters hielt der Vorwurf fehlerhaften Verhaltens in einem der Fälle nicht stand. Wetter gestand in einem Brief "unangemessenes und objektiv falsches Verhalten" im Umgang mit Missbrauchsverdacht ein sowie mangelndes Problembewusstsein.
Besonders bezog sich Wetter in seiner Stellungnahme auf den Fall des Priesters und Wiederholungstäters Peter H.. Dieser war während Wetters Amtszeit trotz rechtskräftiger Verurteilung durch das Amtsgericht Ebersberg erneut in einer Pfarrgemeinde eingesetzt worden.
Der inzwischen verstorbene emeritierte Papst Benedikt XVI., seinerseits Amtsvorgänger von Friedrich Wetter als Erzbischof von München und Freising (1977 bis 1982), hat sich anders als dieser nicht für persönliches Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchstätern entschuldigt, obwohl auch er durch das Gutachten entsprechend belastet wurde: Er sei in fünf Fällen mit Missbrauchs(verdachts)fällen, die ihm bekannt wurden, nicht regelkonform umgegangen. Nach einer Stellungnahme des emeritierten Papstes blieb noch in vier Fällen der Vorwurf des fehlerhaften Umgangs bestehen. Durch seine Anwälte ließ Ratzinger allerdings erklären, er habe über die Personalie Peter H. nicht Bescheid gewusst.
Sind die Ex-Erzbischöfe Wetter und Ratzinger haftbar?
Der Umgang der ehemaligen Münchner Erzbischöfe mit dem Fall Peter H. beschäftigt auch jetzt noch die Justiz: Andreas Perr, der nach eigener Aussage als Zwölfjähriger in Garching an der Alz von besagtem Priester Peter H. missbraucht wurde, will mittels einer Schadensfeststellungsklage beim Landgericht Traunstein gerichtlich klären lassen, ob auch die ehemaligen Münchner Erzbischöfe für den Schaden grundsätzlich haftbar zu machen sind, den ihre Priester durch sexuellen Missbrauch Minderjähriger angerichtet haben, auch wenn die Taten strafrechtlich bereits verjährt sind.
Im Fokus des Zivilverfahrens: Neben dem Erzbistum München und Freising auch Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, die ehemaligen Erzbischöfe. Das Erzbistum könnte in dem Verfahren geltend machen, dass die Taten, um die es im Kern geht, verjährt sind, es könnte aber auch auf eine entsprechende "Einrede der Verjährung" verzichten – wie dies etwa der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki im Fall der Schadensersatzklage eines Missbrauchsbetroffenen tat.
Erzbistum will auf Verjährung pochen
Laut einem Schreiben der Kanzlei des Erzbistums an den Anwalt des Klägers, das dem BR und dem Recherchenzentrum CORRECTIV vorliegt, will das Erzbistum jedoch auf der Verjährungseinrede bestehen. Nach weiteren vorliegenden Unterlagen wird das Verfahren ausgesetzt, bis ein Rechtsnachfolger des verstorbenen emeritierten Papstes gefunden ist.
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