Die Staatsanwaltschaft München I hat ihre Ermittlungen im Nachgang des Anfang 2022 vorgelegten Missbrauchsgutachtens für das Erzbistum München und Freising abgeschlossen.
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Angela Miechielsen , Gruppenleiterin, Hans Kornprobst, Leitender Oberstaatsanwalt, und Anne Leiding, Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I

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Missbrauch: Einsatzgruppe "Kelch" kam zu spät an den Giftschrank

Die Ermittlungen im Nachgang des Münchner Missbrauchsgutachtens zeigen: Die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Kirche kam zu spät. Die meisten Taten sind verjährt. Entscheider in der Chef-Etage können nicht mehr belangt werden. Eine Analyse.

Die Staatsanwaltschaft München I hat ihre Ermittlungen im Nachgang des Anfang 2022 vorgelegten Missbrauchsgutachtens für das Erzbistum München und Freising abgeschlossen. Das Ergebnis: ernüchternd. Denn "fragwürdige Personalentscheidungen", so der Leiter der Staatsanwaltschaft, Hans Kornprobst, gab es "sicherlich eine ganze Reihe". Aber in den ausgewählten Fällen, derer sich die Staatsanwaltschaft in der eigens eingerichteten Einsatzgruppe "Kelch" angenommen hat, wird es, ja kann es keine weiteren strafrechtlichen Verfolgungen mehr geben: die Verfahren – allesamt eingestellt.

Das liegt zum Großteil daran, dass die fraglichen Taten inzwischen strafrechtlich verjährt sind – und damit auch eine mögliche "Beihilfe" durch kirchliche Vorgesetzte. So heißt es auf Juristendeutsch, wenn Bischöfe, Erzbischöfe oder Generalvikare Missbrauchstäter wieder oder weiterhin im Nahbereich von Kindern einsetzen – und es, so verlangt es das Strafrecht, tatsächlich auch erneut zu Missbrauch kommt. Die Münchner Staatsanwaltschaft hatte bei ihren jetzt eingestellten Ermittlungsverfahren konkret die früheren Erzbischöfe Joseph Ratzinger und Friedrich Wetter sowie den ehemaligen Generalvikar Gerhard Gruber im Visier.

Keine Genugtuung für Opfer wegen Verjährung

Für die Betroffenen gibt es in diesen Fällen also keine späte Genugtuung - auch jetzt nicht, da die weltliche Justiz auf den Plan gerufen ist und beteuert, die Kirche nicht "mit Samthandschuhen" anzupacken. Verjährt ist verjährt. Insofern zeigt der Sachstand in München einmal mehr wie in einem Brennglas, dass sich die Kirche viel zu spät dem Thema Missbrauch gestellt hat.

Im Fall München ist die Staatsanwaltschaft mit Verzögerung eingeschritten: Schon im Jahr 2010 lag ein erstes, nicht veröffentlichtes Gutachten des Erzbistums vor, die Staatsanwälte sind aber nicht aktiv geworden. Kein Staatsanwalt seiner Behörde habe Hemmungen, gegen einen Geistlichen zu ermitteln, beteuert Kornprobst heute für sich und die Seinen. Es darf zumindest rückblickend bezweifelt werden.

Keine Anklage gegen Kardinal Wetter

Die Vorstellung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsergebnisse zeigt: Auch da, wo noch keine Verjährung eingetreten ist, kommt per se noch kein Prozess gegen die Verantwortlichen ins Rollen. Dafür muss auch bewiesen sein, dass der Personalverantwortliche im Ornat um begangene Taten seines Dienstbefohlenen wusste, sie weiterhin in Kauf genommen und gebilligt hat.

"In dubio pro reo", im Zweifel für den Angeklagten: Im Fall München gilt das für den noch lebenden Kardinal Friedrich Wetter, Erzbischof von München und Freising von 1982 bis 2008. Für den heute 95-Jährigen reichte es im "Fall 26" (so die Zählung im Missbrauchsgutachten von 2022) nicht für eine Anklage. Die Personalakten zu Priester G., 1962 wegen Missbrauchs an zehn- bis 13-jährigen Jungen zu fünf Jahren Haft verurteilt und später offenbar rückfällig geworden, belegen nicht hinreichend, dass Wetter vorher von den Missbrauchsvorwürfen wusste.

Die Fakten um die Akten im "Giftschrank"

Da nutzte auch die staatsanwaltschaftliche Suche nach einem sogenannten "Giftschrank" im erzbischöflichen Ordinariat nichts, in dem sich Zeugen zufolge stichhaltige Hinweise auf Vertuschungen hätten finden lassen. Den Giftschrank gab es wohl tatsächlich. Der sensible Inhalt wurde aber auf Veranlassung des heutigen Erzbischofs Reinhard Marx 2011 den Personalakten zugeordnet. Sie belegen bewusste Verklausulierungen à la "schwierige persönliche Situation", was die Staatsanwaltschaft als Code für Missbrauchstaten erkannte – wenn auch zu spät für eine Anklage.

Und dennoch: Akten dokumentieren eben nicht immer Fakten – auch das ist ein Lehrstück, mit dem künftige Gutachter und etwaige Staatsanwaltschaften rechnen müssen. Sofern es bei künftigen Gutachten der Diözesen nicht ohnehin so sein wird wie in München, dass die darin zusammengetragenen Fälle sexuellen Missbrauchs schon verjährt sind.

Bistumseigenes Gutachten liegt in vielen Diözesen nicht vor

In der Mehrheit der deutschen Diözesen liegt ein bistumseigenes Gutachten jedenfalls bis heute nicht vor. Für viele Bistümer dürfte das auch eine Kostenfrage sein. Zur Veranschaulichung: Für ihr rund 1.800 Seiten umfassendes Gutachten stellte die Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl (WSW) dem Erzbistum München und Freising rund 1,45 Millionen Euro in Rechnung. Das mag so manches Bistum abschrecken.

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