Dass Lehrkräfte an bayerischen Schulen fehlen, ist bekannt. Nur: Wie viele sind es genau? Wie sehr helfen in dieser Situation sogenannte Quereinsteiger? Und wie kann bestehendes Personal entlastet werden? Darüber gibt es neue Diskussionen. Anlass ist unter anderem eine Umfrage, die das Institut Forsa im Auftrag des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) und des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) durchgeführt hat. Demnach können elf Prozent der Stellen an allgemeinbildenden Schulen hierzulande nicht besetzt werden und auch die Zahl der sogenannten Quereinsteiger hat weiter zugenommen.
Streit über Umfrage, Sorge um Überlastung der Lehrkräfte
Diese Entwicklungen belasten nach Ansicht der Verbände die "klassisch ausgebildeten" Lehrkräfte: Sie müssten nicht nur Personalengpässe kompensieren, sondern den pädagogisch wenig bis nicht geschulten Kollegen stark helfen. BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann fordert deshalb im BR24-Gespräch, die Erwartungen an die Lehrkräfte und Schulen zu senken.
Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) verweist auf entsprechende Bemühungen wie das neue bayerische Beratungsnetzwerk für Lehrkräfte. Er will sich aber offensichtlich nicht von den neuen Zahlen treiben lassen. Er bezeichnete sie sogar als nicht repräsentativ und falsch. Dies wiederum entrüstet die Bildungsgewerkschaft VBE als Mitinitiator der Umfrage.
Aber der Reihe nach.
Bei der nun viel diskutierten Erhebung wurden zu Beginn des laufenden Schuljahres gut 1.300 Schulleiterinnen und Schulleiter in Deutschland befragt - unter ihnen 250 im Freistaat. Die Daten wurden auf alle Schulen hochgerechnet, die Ergebnisse nun vorgelegt. Darin heißt es: Für mehr als 50.000 Lehrkräftestellen gebe es bundesweit kein Personal, die Quote der unbesetzten Stellen betrage rund elf Prozent, in Bayern gut zehn Prozent.
Der VBE spricht davon, dass sich die Situation in den vergangenen Jahren verschlechtert habe. Besonders dramatisch gestaltet sich dem Verband zufolge die Lage an Grund-, Förder- und Sonderschulen: Hier seien sogar rund 14 respektive 15 Prozent der Stellen unbesetzt. Auch an Haupt-, Gesamt- und Realschulen seien die Sorgen sehr groß.
Zunehmend Seiteneinsteiger an Schulen
Und: Viele Stellen seien nur notdürftig besetzt. Wie die Umfrage auch zeigt, unterrichten an der Mehrzahl der Schulen inzwischen Menschen ohne die eigentlich vorgeschriebene Ausbildung inklusive der zwei Staatsexamen. Eine Art bayerische Besonderheit sei, dass hier 87 Prozent der Seiteneinsteiger nur einen befristeten Vertrag hätten - während es bundesweit gerade etwas mehr als 50 Prozent seien.
Ein Problem, meint BLLV-Präsidentin Fleischmann. Leidtragende seien die ausgebildeten Lehrkräfte. Sie müssten den Quer- und Seiteneinsteigern didaktisch und pädagogisch helfen, bei der Organisation von Ausflügen etwa, bei der Notengebung, beim Vorbereiten von Elternabenden. "Wer beantwortet all diese Fragen? Das ist nicht der Kultusminister. Das ist die Kollegin, der Kollege aus der Parallelklasse." Diese müssten mitunter zwischen zwei Klassenzimmern hin- und hereilen; diese Art von doppelter Klassenführung koste viel Kraft und Zeit.
Was können Seiteneinsteiger leisten - und was nicht?
Zwar könnten in einer personellen Notsituation wie der aktuellen Quereinsteiger eine Unterstützung sein. Fleischmann nennt im BR24-Interview Therapeuten, Schulsozialarbeiter und Logopäden als Beispiele. Sie spricht von sogenannten multiprofessionellen Teams, die es neben professionell ausgebildeten Lehrkräften brauche. Seiteneinsteiger könnten also ergänzen, aber ausgebildete Lehrkräfte nicht ersetzen. Gerade angesichts der großen Aufgaben wie Integration und Inklusion würde eine steigende Zahl von Unterrichtenden mit "Schmalspurausbildung" nicht weiterhelfen, sondern vielmehr dem Berufsethos schaden, zu einer Entprofessionalisierung beitragen, junge Leute vom Lehramtsstudium fernhalten.
"Wir stecken längst mitten in einer Bildungskatastrophe." Simone Fleischmann, BLLV-Präsidentin
Von der Politik - also von der Staatsregierung - verlangt Fleischmann nun, "zuzugeben, dass wir einen Lehrermangel haben". Und vor allem: "Erwartungshaltung runter." Es müsse - mit Unterstützung von oben - auch den Eltern klargemacht werden, dass neben einer soliden Grundversorgung nicht immer mehr Angebote, Leistungen und Projekte möglich sind. Notfalls müsse eine AG oder ein Schullandheim ausfallen. Einen neuen BMW könne man auch nicht ohne entsprechende Kapazitäten und Material bauen, sagt Fleischmann zum Vergleich. Belastungsgrenzen und Kipp-Punkt seien inzwischen erreicht.
Im Netz sehen das viele Lehrkräfte ähnlich. Auf Twitter und Instagram berichten viele Lehrkräfte von ständiger Wochenendarbeit und Burn-Out-Risiken, ernten dafür teils Widerspruch und mitunter auch Häme, teils aber auch viel Unterstützung und Zuspruch.
Viele betroffene Seiteneinsteiger stören sich auch an dem negativen Bild, das von ihnen gezeichnet wird. In einer Mail an die BR24-Redaktion schreibt eine Frau, die nach eigenen Angaben seit 16 Jahren unterrichtet und ihren Namen nicht öffentlich preisgeben will, dass sie die gleiche Arbeit leiste wie ihre Kollegen - "mit dem Unterschied, dass ich schlechter bezahlt werde".
Zugleich werde immer über den Lehrermangel berichtet. Warum also, fragt die Frau, werde es es diesen Seiteneinsteigern, "die diesen Job schon seit Jahren machen, nicht ermöglicht, bessere Verträge zu erhalten und in Vollzeit zu arbeiten?" Mehr Arbeitsstunden aber verhindere das Kultusministerium in der Praxis. "Wir Seiteneinsteiger haben zum Teil bereits sehr viel Erfahrung im Unterrichten, verstehen aber nicht, warum wir nicht mehr Stunden arbeiten dürfen." Hier gebe es noch viel Potenzial. Sie selbst müsse im Übrigen nicht bei der Hand genommen werden, weder bei Ausflügen noch bei Elternabenden oder der Notengebung.
Doch auch die Inhalte im Lehramtsstudium werden kritisiert. Ein BR24-Leser kritisiert etwa, dass Studierende auf Grundschullehramt lat Vorgabe ein zweimonatiges Betriebspraktikum in einem Unternehmen (oder auf jeden Fall im nicht-sozialpädagogischen Bereich) absolvieren müssen - während etwa so etwas in anderen Berufen nicht erwartet werde. Dies sei, "schon sehr aus einer Perspektive gedacht, wo die Eltern wahrscheinlich das Studium finanzieren können".

Kultusminister Piazolo zur Umfrage: "Fake"
Kultusminister Piazolo sieht sich ein gutes halbes Jahr vor der Landtagswahl indes auf dem richtigen Weg. Auf einer Pressekonferenz nach der Kabinettssitzung am heutigen Dienstag sagte er, das eben erst eingerichtete Beratungsnetzwerk (online hier zu finden) solle etwa Quereinsteiger und wechselwillige Lehrkräfte unterstützen. Zudem seien im vergangenen Jahr 4.600 Stellen neu besetzt worden. Fast 97 Prozent der Lehrkräfte mit erstem und zweitem Staatsexamen seien in Bayern unbefristet beschäftigt. Und überhaupt sei er "zögerlich" bei Zahlen, die unterwegs seien.
Er meint damit: die neue Forsa-Umfrage, über die er sich geärgert habe, deren Veröffentlichung er sogar als "Fake" bezeichnet. Die Daten würden nicht stimmen, es gebe methodische Schwächen. Auch Einschätzungen und Gefühle seien abgefragt worden; es werde nicht klar, welche Schularten unter welcher Trägerschaft einbezogen wurden; zudem dürften beispielsweise Krankheitsfälle oder Schwangere nicht als fehlende Stellen betrachtet werden. Und auch Quereinsteiger würden in Bayern vorab intensiv und lange ausgebildet.
Bildungsgewerkschaft wirft Piazolo Ablenkungsmanöver vor
Ein Vorwurf, der Gerhard Brand fassungslos macht und erzürnt. Brand ist Bundesvorsitzender des VBE, der nach eigenen Angaben mehr als 160.000 Pädagogen in Deutschland vertritt. Die durch randomisierte Telefoninterviews erhobenen Daten seien korrekt erhoben und wissenschaftlich exakt aufbereitet worden, sagt Brand auf BR24-Nachfrage. Piazolo wolle sie offenbar schlecht machen, um "vom eigenen Versagen" abzulenken.
Er fordert: Die Politik und auch Piazolo sollten sich ehrlich machen, den Lehrkräftemangel nicht beschönigen, keine unerfüllbaren Erwartungen schüren, kein Personal aus anderen Bundesländern abwerben, die Belastungen senken, den Beruf attraktiver machen. "Bei vielen ist Ende Gelände", sagt Brand zu den Burn-Out-Gefahren und langen Rekonvaleszenzzeiten vieler Lehrer, unter ihnen auch Berufsanfänger und Studierende.
Kontraproduktiv seien dabei die jüngsten Vorschläge der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission, die als Beratergremium der Kultusministerkonferenz gegen die Personalengpässe unter anderem größere Klassen und mehr Arbeit für Lehrkräfte empfohlen hatte. Brand hält entgegen: "Wir müssen die Leute im System halten." Wie notwendig das ist, belegen laut Brand die vielen vakanten Positionen auf den Schulleitungsposten. Kaum einer sei hier noch bereit unter diesen Bedingungen zu arbeiten, "das wird auch ein Piazolo nicht leugnen können".
In der Umfrage bezeichnen übrigens 70 Prozent der Schulleitungen hierzulande den Lehrkräftemangel als größtes Problem an ihren Schulen - im Jahr 2018 waren es "nur" 58 Prozent. Viele blicken ebenfalls skeptisch in die Zukunft: Mehr als 80 Prozent gehen davon aus, dass sie von Personalengpässen stark oder sehr stark betroffen sein werden. Dies sei übrigens die einzige Frage gewesen, sagt Brand, bei der in der Erhebung nach einer persönlichen Einschätzung gefragt worden sei.
Mit Material von dpa und epd
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