Setzte 2022 auf einen klaren Bayern-Kurs und Kritik an der Ampel: Ministerpräsident Söder, hier bei einer Flugzeug-Taufe am 29.04.22.
Bildrechte: pa/dpa/Felix Hörhager

Setzte 2022 auf einen klaren Bayern-Kurs und Kritik an der Ampel: Ministerpräsident Söder, hier bei einer Flugzeug-Taufe am 29.04.22.

  • Artikel mit Video-Inhalten

Krieg, Atomkraft, Winnetou – Söder und die Landespolitik 2022

Neue Minister und viele Baustellen, Kurswechsel und Rückbesinnung, Krisen und das Ende politischer Gewissheiten – 2022 brachte in der Landespolitik viel Widersprüchliches zu Tage. Meist mittendrin: Ministerpräsident Söder. Ein Rückblick.

CSU-Chef Markus Söder musste sich ein Stück weit neu erfinden – einmal mehr. 2022 sollte das Katastrophenjahr 2021 wieder vergessen machen: die Niederlage im Ringen um die Unions-Kanzlerkandidatur, die Schlappe bei der Bundestagswahl, die Unruhe in der eigenen Partei, sinkende persönliche Zustimmungswerte. Söder wäre nicht er selbst, hätte er in der bundespolitisch ungewohnten Oppositionsrolle nicht schnell eine neue Strategie entwickelt, die ihm mit Blick auf die bayerische Landtagswahl 2023 erfolgsversprechend scheint.

Das ganze Jahr über arbeitete der Ministerpräsident und CSU-Chef daran, sein Bündnis mit den Freien Wählern in Bayern zum homogenen Gegenentwurf zur oft uneinigen Ampel-Regierung im Bund zu stilisieren. Nahezu täglich attackierte Söder die Koalition in Berlin, beklagte eine bewusste Benachteiligung Bayerns – und setzte auf die wahrscheinlich älteste CSU-Erzählung überhaupt: die Christsozialen als einzig wahrer Interessensvertreter Bayerns in Deutschland.

Corona: Vom Verschärfen zum Lockern

Schon in seiner Neujahrsansprache schlug Söder ungewöhnlich nachdenkliche Töne an: In der Corona-Politik habe er gelernt, "dass das stramme Verkünden von Maßnahmen" alleine nicht reiche. "Wir müssen besser erklären, uns mehr Zeit für die Sorgen der Menschen nehmen und versuchen, alle mitzunehmen." Eineinhalb Jahre lang hatte er sich zuvor als Deutschlands härtester Corona-Bekämpfer präsentiert, 2022 wurde der CSU-Politiker nach und nach zum Corona-Lockerer Nummer eins.

"Team Vorsicht und Umsicht" war gestern, stattdessen propagierte der Ministerpräsident zunehmend die Rückkehr der Lebensfreude, tourte durch Bierzelte, verwahrte sich gegen Karl Lauterbachs Verbal-Attacken auf das Münchner Oktoberfest. Bayern ging voran bei der Abschaffung der Quarantäne für Kontaktpersonen, beim Ende der Isolationspflicht für Corona-Positive sowie schließlich beim Aus für die Maskenpflicht in Bussen und Bahnen des Nahverkehrs. Bei der einrichtungsbezogenen Impflicht sorgte die Staatsregierung zunächst dafür, dass keine Bußgeldbescheide ausgestellt wurden, später verzichtete der Freistaat weitgehend auf den Vollzug einer Verschärfung.

Wer vergessen hatte, dass Bayern einst die bundesweit schärfsten Regeln hatte, wurde Ende November durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts daran erinnert – das nachträglich die strenge Ausgangsbeschränkung des Freistaats im April 2020 als unverhältnismäßig einstufte. Wer wegen dieser Regelung damals ein Bußgeld zahlen musste, soll es zurückfordern können.

Drei neue Minister – auch gegen die Ampel

Die Positionierung gegen die Berliner Ampel spielte auch eine wesentliche Rolle bei Söders Kabinettsumbildung im Februar. Mit Christian Bernreiter (Wohnen, Bau und Verkehr), Markus Blume (Wissenschaft und Kunst) und Ulrike Scharf (Familie, Arbeit und Soziales) präsentierte er drei neue Minister. Die Arbeitsplatzbeschreibung des Ministerpräsidenten für die neuen Kollegen im Kabinett: Fachkompetenz beweisen und "auf Augenhöhe" mit der Bundespolitik agieren – also auch in der öffentlichen Wahrnehmung einen bayerischen Gegenpol zu den Berliner Ampel-Ministern bilden.

Darüber hinaus erwartet Söder als CSU-Chef von den Ministern Top-Ergebnisse bei der Landtagswahl – als "Local Heros", die "vor Ort die meisten Stimmen sammeln". Für diese Überlegungen opferte Söder auch die Geschlechterparität unter den CSU-Ministern. Nicht nur die neuen, sondern auch bisherige Kabinettsmitglieder traten fortan bei (fast) jeder Gelegenheit als scharfe Ampel-Kritiker auf.

Bildrechte: pa/dpa/Daniel Karmann

05.09.22: Freie-Wähler-Chef Aiwanger (r.) steht während seiner Rede auf dem Volksfest Gillamoos neben einem Winnetou-Darsteller.

Rückbesinnung: Würste und Winnetou

Dazu kam eine inhaltliche Neuausrichtung der CSU – wobei Rückbesinnung vermutlich das bessere Wort ist. Sticheln gegen Gendersternchen und Veganer, Hymnen auf bayerische Würste und Biere: Söder setzte 2022 auf traditionelle CSU-Identitätspolitik. Schwarz-grünen Überlegungen, vor der Bundestagswahl noch von ihm selbst befeuert, erteilte der Parteichef eine Absage – und erklärte die Freien Wähler endgültig zum natürlichen Partner der Christsozialen. In den hysterisch geführten Debatten um den Partyhit "Layla" und vom Markt genommene Winnetou-Werke präsentierte sich Söder als Verfechter der Freiheit. Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger positionierte sich identisch – und trat beim Gillamoos im September sogar mit einem Winnetou-Double an der Seite auf die Bierzelt-Bühne.

"Zur Politik gehört natürlich Veränderung", sagt die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch im BR-Interview. Für Söders Kurswechsel gebe es "besonders augenfällige" Gründe. "Das ist natürlich der von ihm mit verschuldete Ausgang der Bundestagswahl zu Ungunsten von CDU und CSU." Hinzu kämen Befindlichkeiten der CSU, die noch "nie so ein richtiger Fan der grünen Ambitionen des Parteivorsitzenden" gewesen sei.

Ursula Münch im BR-Interview
Bildrechte: BR

"Zur Politik gehört natürlich Veränderung", sagt die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch im BR-Interview.

Söder und die neuen CSU-Generalsekretäre

Zugleich versuchte Söder, im Februar auch in der CSU-Landesleitung frischen Wind zu entfachen – mit der Berufung Stephan Mayers zum Generalssekretär. Der erhoffte Aufbruch wurde aber nach nicht einmal zehn Wochen jäh gestoppt: Mayer stolperte darüber, dass er einen Journalisten wegen dessen Berichterstattung offenkundig bedroht haben hatte.

Als Söder dann den Landtagsabgeordneten Martin Huber zum Nachfolger erkor, dauerte es keine 40 Stunden bis zu neuen negativen Schlagzeilen – wegen Plagiatsvorwürfen in Zusammenhang mit der Doktorarbeit des neuen CSU-Generals. Mehrere Monate ließ sich die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) für die anschließende Prüfung Zeit. Zwar sah sie schließlich die Voraussetzungen für einen Entzug des Doktorgrades nicht gegeben, äußerte aber deutliche Kritik an Hubers Arbeit. Daraufhin kündigte der heute 45-Jährige an, freiwillig auf das Führen seines Doktortitels zu verzichten.

Bildrechte: pa/SvenSimon/Frank Hoermann

CSU-Kurzzeit-Generalsekretär Stephan Mayer, aufgenommen neben Parteichef Markus Söder am 25.02.22.

Der Ukraine-Krieg und die Energiefrage

Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine und seinen Folgen rückte dann die Energieversorgung in den Fokus. Nicht nur Fracking-Forderungen und bayerische Wasserstoff-Initiativen prägten dabei Söders Jahr: Aus dem einstigen Kämpfer für einen raschen Atomausstieg wurde auch der lauteste Rufer nach einer AKW-Laufzeitverlängerung um mehrere Jahre. Für die verbliebenen drei deutschen Atomkraftwerke will er auch jetzt noch neue Brennstäbe bestellen lassen. Mit CDU-Chef Friedrich Merz pilgerte Söder sogar zum AKW Isar 2 – die Fotos der Unionspolitiker vor dem mächtigen Kühlturm sorgten für Aufmerksamkeit.

Gegen Vorwürfe aus Berlin, Bayern habe den Ausbau der Windkraft verschleppt, wehrt sich Söder vehement – und rattert regelmäßig Zubau-Zahlen herunter, um Bayerns Spitzenposition bei erneuerbaren Energien zu belegen. Zugleich lockerte das bayerische Kabinett die 10-H-Abstandsregel für Windräder, um den Ausbau zu erleichtern. Mehr ins Gewicht fallen dürfte aber das "Wind-an-Land-Gesetz" der Bundesregierung, das schon bald deutlich mehr Flächen für Windkraft vorschreibt.

Politologin Münch ist der Meinung, dass Söder nach seinen zwischenzeitlichen bundespolitischen Ambitionen seine Rolle gefunden hat – die nun auf den Freistaat beschränkt sei. "Und er übt sie gerne aus: Nämlich von Bayern aus, vom sogenannten freien Süden aus, gegen die Ampel zu wettern."

"Politik muss kompromissbereit und pragmatisch sein"

Dagegen gab die bayerische Landtagspräsidentin und oberbayerische CSU-Bezirkschefin Ilse Aigner auch Fehler ihrer eigenen Partei zu. Aigner räumte im "Zeit"-Interview ein, dass der Widerstand der CSU gegen den Bau neuer Stromtrassen seit 2014 bis heute Folgen habe. "Wir sind beim Strom abhängiger als andere von Atomkraftwerken, und es gibt Engpässe bei den Leitungen von Nord nach Süd." Dafür machte Aigner indirekt auch Söder mitverantwortlich.

Der russische Einmarsch in der Ukraine bewegte aber nicht nur CSU und Freie Wähler zum Umdenken in der Energiepolitik, auch andere Parteien schlugen neue Töne an. So plädierten wegen der unsicheren Gaslieferungen aus Russland beispielsweise in München auch SPD und Grüne zumindest für einen sogenannten Streckbetrieb des Atomkraftwerks Isar 2 – also eine um ein paar Monate verlängerte Laufzeit. In dieser außergewöhnlichen Situation müsse Politik kompromissbereit und pragmatisch sein, argumentierte Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (Grüne).

150.000 ukrainische Geflüchtete registriert

Die wohl spürbarste Kriegsfolge für den Freistaat waren Menschen – sehr viele Menschen. Bis Anfang Dezember wurden laut Innenministerium in Bayern rund 150.000 ukrainische Geflüchtete registriert, zwei Drittel Frauen, ein Drittel Kinder und Jugendliche. 34.000 Menschen aus der Ukraine lebten zu diesem Zeitpunkt in staatlichen Unterkünften. Deren Kapazität stieß im Jahresverlauf an ihre Grenzen, auch wegen vieler Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber aus anderen Regionen der Welt. Unterdessen entstanden in Bayerns Schulen viele Brückenklassen für geflüchtete Kinder – ukrainische Lehrerinnen kommen aber bisher auch wegen der großen Bürokratie nicht so viel wie erhofft zum Zug.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine sorgte auch für eine Debatte über frühere Putin-Besuche der CSU-Spitze, bei denen es vor allem um die "Energiepartnerschaft" ging. Der damalige Parteichef und Ministerpräsident Horst Seehofer hinterfragte bei einer solchen Reise noch 2016 die Sanktionen gegen Russland – nach der Krim-Annexion. Der bayerische Grünen-Abgeordnete Florian Siekmann spricht im Rückblick von "schwer problematischer Nebenaußenpolitik". Auch der aktuelle Parteichef Söder reiste 2020 nach Moskau, betonte nach Kriegsbeginn aber, er sei eingeladen worden und habe die Reise mit dem Kanzleramt abgestimmt. Zudem habe er die schon damals bestehenden Sanktionen bei dem Treffen im Kreml verteidigt.

Bildrechte: pa/dpa/Peter Kneffel

Masken-Millionärin Andrea Tandler, Tochter eines früheren CSU-Generalsekretärs, bei ihrem Auftritt im Masken-Untersuchungsausschuss am 27.07.22.

Landtag: Aufarbeitung der Masken-Affäre

Unterdessen machte die bayerische Opposition bei der Staatsregierung auch in diesem Jahr viele Angriffsflächen aus. Die Grünen attackierten vor allem das aus ihrer Sicht zu lasche neue Klimaschutzgesetz, für das CSU und Freie Wähler Mitte Dezember im Landtag stimmten. Die SPD monierte unter anderem die überschaubaren Erfolge beim staatlichen Wohnungsbau und die CSU-Initiative gegen die ursprünglichen Bürgergeld-Pläne der Ampel. Die FDP hielt wenig von der Wirtschaftspolitik der Staatsregierung und bezeichnete Minister Aiwanger mehrfach als Fehlbesetzung – während die AfD scharfe Kritik an fast allen Entscheidungen übte, etwa in der Energie-, Flüchtlings- oder Klimaschutzpolitik.

Im Landtag stand 2022 der Masken-Untersuchungsausschuss im Fokus. 150 Zeugen und ein gewaltiger Fragenkatalog sollten helfen, Corona-Beschaffungen am Anfang der Pandemie zu durchleuchten. Im Dezember sagte auch Ministerpräsident Söder aus. Die Bilanz der Ausschuss-Arbeit fällt unterschiedlich aus: Die Staatsregierung sieht den Vorwurf von Selbstbereicherung in der Not ausgeräumt – bis auf wenige Einzelfälle wie den früheren CSU-Abgeordneten Alfred Sauter und die CSU-Generalsekretärs-Tochter Andrea Tandler. Fälle, die allerdings nicht der Ausschuss aufgedeckt hatte. Die Opposition hält Filz, Vetternwirtschaft und völlige Überforderung beim Corona-Beginn dagegen für erwiesen.

2023: Neue U-Ausschüsse und Landtagswahl

Während sich der Masken-Ausschuss dem Ende zuneigt, werden 2023 drei andere U-Ausschüsse Zeugen befragen: der bereits länger eingesetzte NSU-Untersuchungsausschuss sowie die jüngst beschlossenen Ausschüsse zur zweiten S-Bahn-Stammstrecke in München und zu den hohen Mietkosten für das "Zukunftsmuseum" in Nürnberg. Diese Themen sollen der Opposition auch Schwung für den Landtagswahlkampf geben.

Personell sind die meisten Entscheidungen dagegen schon gefallen: Spitzenkandidat der SPD ist Bayerns Partei- und Fraktionschef Florian von Brunn, für die Grünen treten die Fraktionsvorsitzenden Ludwig Hartmann und Katharina Schulze an, die FDP schickt ihren Landes- und Fraktionschef Martin Hagen ins Rennen. Dass die CSU mit Markus Söder und die Freien Wähler mit Hubert Aiwanger antreten, gilt als ausgemacht. Die AfD hat sich noch nicht festgelegt.

Auch wenn es bis zur Wahl am 8. Oktober noch mehrere Monate sind – die Parteien sind längst im Wahlkampfmodus. Die Opposition plant Untersuchungsausschüsse und Volksbegehren, die Regierungskoalition droht mit Klagen gegen Ampel-Entscheidungen. Pünktlich zu Weihnachten ist Söder in den sozialen Netzwerken aber auch wieder als besinnlicher Landesvater zu sehen. Mal zündet er im Weihnachtspulli Kerzen an, mal liest er vor einem virtuellen Kaminfeuer die Weihnachtsgeschichte vor. Und so endet ein aufgeregtes landespolitisches Jahr – irgendwo zwischen Krieg, Atomkraft und Winnetou.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!