Die Zahl der Menschen, die in Bayern in einer forensischen Psychiatrie untergebracht werden, steigt. Die Einrichtungen sind auf die Unterbringung und Behandlung von psychisch auffälligen Straftätern spezialisiert. So wie die Forensik in Lohr in Unterfranken.
Das Gebäude am westlichen Rand des Geländes unterscheidet sich sichtbar von den anderen Häusern des Bezirkskrankenhauses. Etwa fünf Meter ragt der Zaun in die Höhe. Stacheldraht ist daran befestigt, Lautsprecher und Kameras. Etwa 170 Patienten sind in der Rupert-Mayer-Klinik für Forensische Psychiatrie untergebracht. Hier lebt auch Jürgen. Vor vier Jahren zündete er das Haus seiner Eltern an.
Erst Erkrankung, dann Brandstiftung
Jürgen ist groß gewachsen. Er trägt ein graues T-Shirt, sein Händedruck ist locker. Der 27-Jährige grüßt freundlich. In Lohr ist er seit dreieinhalb Jahren: "Ich hatte mal einen schlechten LSD-Trip. Danach war eigentlich nichts mehr wie vorher." Durch den Drogenkonsum habe er Psychosen entwickelt: "Da denkt man nicht klar." Die Zeit nach dem Delikt sei "schrecklich" gewesen: "Man denkt sich nur, was habe ich eigentlich getan?" Damals hatte er unter anderem Kleidung in Benzin getränkt, berichtet Jürgen. Es kam zu einer Verpuffung. Seine Familie kam mit Verletzungen davon. Ein halbes Jahr saß er in Untersuchungshaft. Dann wurde ein Gutachten erstellt. Die Diagnose: Jürgen ist an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt.
Patienten wissen nicht, wann sie gehen dürfen
Straftäter, die wie Jürgen zum Tatzeitpunkt nicht in der Lage sind, "das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln", gelten in Deutschland als schuldunfähig. So steht es im Strafgesetzbuch. In Jürgens Fall war es eine psychische Erkrankung, die zu dieser Einordnung führte. Für ihn hatte das zur Konsequenz: Wegen der Brandstiftung kam er nicht in Gefängnis, sondern in den Maßregelvollzug – also eine forensische Psychiatrie.
Der grundlegende Unterschied zum Gefängnis: In der Forensik gibt es die Möglichkeit, dass Jürgens Krankheit therapiert wird. Gleichzeitig ist jedoch kein Datum fixiert, wann Jürgen wieder auf freien Fuß kommt. Entlassen wird er erst, sobald er vollständig therapiert ist.
Tagesablauf der Bewohner ist streng getaktet
"Das ist schon schwierig, dass die Zukunft nicht mehr in den eigenen Händen liegt", sagt Jürgen. Nach dreieinhalb Jahren in Lohr hat er die sogenannte Sicherheitsstufe "D1" erreicht. "D1" bedeutet, dass ihm an Wochenenden Ausgänge gewährt werden, die bis zu 24 Stunden dauern dürfen. Als er in Lohr ankam, war er noch in der Stufe "03" eingruppiert, erzählt er. Das bedeutete: Er durfte sich nur auf seiner Station frei bewegen. Ausgänge waren tabu.

Seit dreieinhalb Jahren lebt Jürgen in der forensischen Psychiatrie in Lohr am Main.
Jürgens Alltag ist sehr strukturiert. Für jede Woche erhält er eine Art "Stundenplan". Darauf steht eine Mischung aus Arbeit und Therapie. Auf dem Gelände des Bezirkskrankenhauses gibt es zum Beispiel eine Gärtnerei, eine Werkstatt und einen Gutshof. Dort arbeitet Jürgen gerade. Er mistet Ställe aus, füttert Ziegen, Schafe und Kaninchen. Anschließend geht er zu einem Gruppengespräch. "Die Psychologengespräche sind für mich fast das wichtigste", sagt Jürgen. Auch die Psychoedukation habe ihm geholfen. Dort lernt Jürgen die Frühwarnzeichen seiner Erkrankung zu erkennen und wie sein Körper mit den Medikamenten, die er nimmt, umgeht. Gegen die Schizophrenie erhält Jürgen Neuroleptika.
Immer mehr Menschen im Maßregelvollzug
Als "63er" oder "64er" bezeichnen er und seine Mitbewohner sich manchmal gegenseitig. Gemeint sind damit die Paragrafen des Strafgesetzbuches, wegen denen sie in Lohr untergebracht sind. Jürgen kam wegen einer psychischen Erkrankung – also Paragraf 63. Viele seiner Mitbewohner hingegen sind "64er", sie durchlaufen in Lohr einen Drogen- oder Alkoholentzug, waren also bei der Tat berauscht. Zum 31. Dezember 2020 befanden sich in Bayern 1.626 Personen in einem solchen Entzug.
Generell fällt auf: Immer mehr Menschen sind im Freistaat in forensischen Psychiatrien untergebracht. Ende 2015 waren es 2.583, zum Jahresende 2020 bereits 2.916 Personen. Dominikus Bönsch, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses, führt den Anstieg vor allem auf eine veränderte Rechtsprechung im Paragraf 64 zurück – also bei Menschen mit Suchterkrankungen. Hinzu käme eine Art "Rückstau", bei denjenigen, die wegen des Paragraf 63 in die Forensik gekommen sind und entlassen werden sollen: "Die meisten Patienten gehen in weiterführende Einrichtungen, also in offene oder geschlossene Heime. Doch da haben wir definitiv zu wenig Möglichkeiten die Patienten unterzubringen."
Enge Belegung, mehr Gewalt
Ausgerichtet war die Forensik in Lohr einst für 118 Patienten, sagt Dominikus Bönsch. Inzwischen seien in viele Zimmer zusätzliche Betten gestellt worden. Einzelzimmer gebe es nur noch für extrem aggressive Patienten, die etwa fixiert werden: "Ansonsten ist die räumliche Enge wirklich erdrückend. Das ist eine hochexplosive Mischung."
2.916 Patienten waren zum 31. Dezember 2020 in den forensischen Kliniken in Bayern untergebracht.
In insgesamt 33 Fällen wurden im Jahr 2020 Jahr Patienten gegenüber Mitarbeitern gewalttätig. Zum Vergleich: 2017 waren es noch sieben Fälle. Zwar liegt es im Ermessen der jeweiligen Kliniken, was als gewalttätiger Übergriff erfasst wird und was nicht. Doch Dominikus Bönsch wirkt alarmiert: "Das ist eine schwierige Situation, muss man ehrlicherweise sagen." Auch das Bayerische Sozialministerium hielt kürzlich fest: "Grundsätzlich besteht ein Zusammenhang zwischen einer höheren Belegungsdichte und dem Stationsklima einerseits sowie der Belastung der Mitarbeitenden andererseits." Deshalb wolle die Staatsregierung eine Reform des Paragraf 64 im Strafgesetzbuch unterstützen.
Klinik-Alltag mit vielen Auflagen
Auch für Patient Jürgen war der Alltag mit so vielen Mitbewohnern zunächst eine Umstellung: "Es ist zwar ein gesichertes Umfeld. Aber es ist doch schwierig, man hat oft Konflikte." Zugleich ärgert er sich darüber, dass selbst bei Patienten wie ihm, deren Genesungsprozess fortgeschritten ist, der Alltag viele Auflagen beinhaltet: "Das hat sogar schon eine Psychologin gesagt, dass mir die Autonomie fehlt."
Zum Beispiel muss er nach jedem Essen sein Besteck wieder abgeben, erzählt Jürgen. Das werde in einer Liste vermerkt – auch nach dreieinhalb Jahren noch. Ein Handy darf er inzwischen besitzen, allerdings nur außerhalb der Psychiatrie nutzen. Während seines Aufenthaltes hätte er gerne auch einen höheren Schulabschluss gemacht. Doch in Lohr sei ihm nur die Mittlere Reife angeboten worden. Die hat er bereits. Nach Angaben der Klinik haben dort bislang nur zwei Patienten das Abitur nachgeholt.
Langer Weg in die Freiheit
Pro Tag kostet die Unterbringung eines Patienten in der forensischen Psychiatrie etwa 250 Euro, sagt Klinik-Leiter Dominikus Bönsch. Das sei etwas mehr als doppelt so viel wie in einer JVA.
Patient Jürgen sagt, die Hilfe in der Klinik sei für ihn "wertvoll" gewesen: "Sonst hätte ich den Weg in die Therapie wahrscheinlich nicht gefunden." Sobald er die nächste "Sicherheitsstufe" erreicht hat, hätte er die Möglichkeit, in einem betreuten Probewohnen unterzukommen. Auch dort würde er noch der Kontrolle der Klinik unterliegen. Erst im Anschluss wäre er endgültig in Freiheit. Drogenscreenings und Überprüfungen, ob er seine Medikamente nimmt, könnten aber auch dann noch zu seinem Alltag gehören.
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