Kurt Reimers hat in seiner Kindheit und Jugend Schreckliches erlebt. Von 1962 bis 1975 war er in einem Kinderheim in Oberammergau untergebracht. Dort wurde er missbraucht.
Im Mittelpunkt seiner Erzählungen steht Schwester M., eine Nonne. Kurt Reimers sollte sie sexuell befriedigen. Er wurde auch Männern zugeführt, darunter einem Kölner Maristenpater, der seinen Urlaub im Heim verbrachte. Die Schwester, so Reimers, habe ihn auch ins Kloster Ettal gebracht. Ettaler Mönche hätten ihn dort mehrfach aus dem Gottesdienst geholt und im Keller vergewaltigt.
Kurt Reimers heißt in Wahrheit anders. Um ihn zu schützen, nennen wir seinen richtigen Namen nicht. Seine Schilderungen wurden inzwischen von der Kirche geprüft und als plausibel eingestuft. Aber als er jung war, haben sie niemanden interessiert.
Stadt München zuständig
Schon mit 18 Jahren will sich Kurt Reimers an Verantwortliche gewandt haben. An jeden Münchner Oberbürgermeister seit Erich Kiesl habe er geschrieben. Reagiert habe niemand, schildert Reimers.
Heute macht er die Stadt München verantwortlich für das Leid, das er erlitten hat. Das Personal stellten zwar die Niederbronner Schwestern, ein Frauenorden. Das Heim aber unterstand der Stadt. Eine funktionierende Heimkontrolle gab es damals nicht, so lautet einer seiner zentralen Vorwürfe. Vertreter oder Angestellte der Stadt München hätten dabei nicht nur weggeschaut – sie seien sogar Täter gewesen, sagt Kurt Reimers.
Konkret benennt er zwei Männer: Einer sei sein damaliger Vormund gewesen, der andere Stadtrat oder Sozialreferent. Den Namen kennt Reimers. Die genaue Funktion des Mannes erfuhr er als Kind aber nicht. Wenn dieser das Heim in Oberammergau besucht habe, sei er mit "fürstlichem Mittagessen" im Schwesternzimmer bewirtet worden. Als "Nachtisch" sei er, Kurt Reimers, gereicht und missbraucht worden: "Es ging an mit Hoppe-Hoppe-Reiter. Und ging dann immer weiter."
Stadt verweist an Aufarbeitungskommission
Welche Kenntnisse die Stadt München über die Vorgänge hat, ist unklar. Auf Nachfrage verweist die Pressestelle auf die laufende wissenschaftliche Aufarbeitung. Dieser wolle man nicht mit Informationen zu einzelnen Personen und Sachverhalten vorgreifen, heißt es in einer Stellungnahme.
Erst im Herbst 2021 hat die Stadt eine unabhängige Kommission gegründet. Sie soll untersuchen, inwieweit Behördenvertreter mit der Kirche zusammengearbeitet – oder zumindest nicht so genau hingesehen haben. Auch die Frage, ob es pädophile Netzwerke gab, soll die Kommission klären.
Aufarbeitung überfällig
Aus der Sicht vieler Opfervertreter ist eine solche Aufarbeitung zur Rolle von kommunalen und staatlichen Behörden überfällig – nicht nur in München. Denn die Akten-Recherchen aktueller Aufarbeitungskommissionen bundesweit liefern Hinweise, wie eng die Kontakte von Kirchenvertretern und staatlichen Behörden mitunter waren.
Für das Erzbistum München-Freising hat die Rechtsanwaltskanzlei Westphahl-Spilker-Wastl kürzlich ein vielbeachtetes Gutachten vorgelegt. Dafür hat die Kanzlei die Akten des Erzbistums ausgewertet. Erwähnt werden im Gutachten etwa "milde Urteile" gegenüber geistlichen Tätern.
"Gnadengesuch" ans Justizministerium
Konkretere Hinweise zur Nähe zwischen kirchlichen und staatlichen Institutionen liefern beispielsweise zwei Fälle aus den 50er und 60er Jahren: Im Fall eines pädophilen Priesters wandte sich das Ordinariat mit einem "Gnadengesuch" direkt ans Justizministerium. Die "Reststrafe" wurde erlassen, so steht es laut Gutachten in den Akten. Der Täter wurde nach der Haft weiter versetzt. Seine neue Aufgabe: Religionsunterricht in einer Schule.
Auch in einem zweiten Fall setzte sich die Kirche dem Gutachten zufolge für einen Täter in Haft ein: Man werde ihn "keineswegs vergessen", schrieb das Ordinariat in einem Trostbrief. Der pädophile Priester wurde vorzeitig entlassen und in die Gemeindeseelsorge versetzt.
Staatsanwaltschaft: "Keine besonderen Vorgaben"
Die Fälle datieren weit in der Vergangenheit. Die Münchner Staatsanwaltschaften erklären auf Anfrage, dass es heute keine Vorgaben für die Ermittlungen in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs in Verbindung zu kirchlichen Einrichtungen gebe: "Eine Sonderstellung von Beschuldigten besteht nicht. Von hiesiger Seite wird, wie auch in allen sonstigen Verfahren, getan, was zu tun ist." Eine Vielzahl möglicher Straftaten im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen sei bereits bei Kenntniserlangung durch die Staatsanwaltschaft verjährt gewesen.
Täterschutz über Opferschutz
Ein ähnliches Bild wie im Gutachten der Kanzlei Westphahl-Spilker-Wastl wird in einem entsprechenden Dokument gezeichnet, in dem die Vorgänge im Erzbistum Hildesheim aufgearbeitet worden sind. Täterschutz habe über Opferschutz gestanden, lautet eine der Erkenntnisse der Untersuchung: "Wenn ein Pfarrer vor Gericht stand, war er nicht der gleiche Angeklagte wie ein weltlicher Angeklagter. Der Pfarrer genoss auch vor Gericht bevorzugte Behandlung", resümiert der ehemalige Staatsanwalt Kurt Schrimm als Mitglied der entsprechenden Aufarbeitungskommission im Interview mit dem BR.
Wahrheitskommission gefordert
Unter anderem weil viele der Taten längst verjährt sind und Strafermittlungen heute oft zu spät kommen, fordern Opfervertreter wie Matthias Katsch eine nationale Aufarbeitungskommission. Er nennt sie "Wahrheitskommission": "Wir haben mit dem Begriff der Wahrheitskommission als Betroffen-Vertreter versucht, deutlich zu machen, wo die Aufgabe ist. Nämlich, dass eine staatliche, unabhängige Instanz eine Institution wie die katholische Kirche dazu bringt und begleitet, ihre Verantwortung und die Verbrechen, die in ihrem Kontext in der Vergangenheit geschehen sind, aufzuklären." Katsch geht es dabei auch darum, staatliche Stellen in die Pflicht zu nehmen.
Ein Vorbild könnte die Nationale Aufarbeitungskommission für sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche in Frankreich sein. Fern der Kirche – mit Wissenschaftlern besetzt.
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