Anne Hilgendorff wartet auf ein Spenderherz
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Glücksspiel Organtransplantation - Das Lange Warten auf ein Organ

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Glücksspiel Transplantation: Das lange Warten auf ein Organ

Das Herz ist geschwächt, die Niere arbeitet nicht mehr, die Leber gibt auf: Bei einer Organ-Transplantation geht es nicht selten um Leben und Tod. Trotzdem warten Menschen auf ein Spenderorgan manchmal Jahre. Die einen haben Glück. Andere nicht.

"Triage" – ein Begriff, der nicht nur Ärzte schaudern lässt: Mediziner müssen entscheiden, wer im Notfall zuerst behandelt wird. Wem geholfen wird und wem eventuell nicht mehr. In Ländern wie Deutschland dürfte dieser Begriff doch im medizinischen Bereich keine Bedeutung mehr haben, oder? Während Corona wurde dieser Begriff wieder geläufig. Doch es gibt eine Personengruppe, die damit permanent konfrontiert ist, auch – oder vielleicht gerade - in Deutschland: Menschen, die auf ein Spenderorgan warten.

Selbst bei einer "hohen Dringlichkeit" - einer sogenannten HU-Listung ("high urgency") - beträgt die Wartezeit für Transplantationspatienten hierzulande derzeit bis zu einem Jahr. Dieses Jahr muss der oder die Betroffene stationär im Krankenhaus verbringen. Wer diese hohe Priorität nicht bekommt, gleichwohl aber eine Transplantation benötigt, wartet unter Umständen viele Jahre. Was all das mit diesen Menschen und ihren Angehörigen macht, kann man sich als Nichtbetroffener kaum vorstellen.

Und es gibt viele Wartende: Über 700 Menschen brauchen derzeit in Deutschland ein Herz. Gespendet wurden 2021 aber nur 310 Herzen – in Bayern sogar nur 32. Also viel zu wenig. Dieser Organmangel bedeutet für die Wartenden ein Leben in ständiger Ungewissheit. DokThema hat sich in Bayern umgeschaut und zwei Betroffene in ihrer Situation begleitet.

Warten – mit künstlichem Herzen

Thomas Krauß bekam nach einer verschleppten Virusinfektion schwere Herzprobleme. 2019 wurde dem 46-jährigen Familienvater aus dem Allgäu ein Herzunterstützungssystem, ein sogenanntes Kunstherz implantiert. Zuvor war er dem Tod nah, musste zweimal wiederbelebt werden, hatte Erstickungsanfälle, galt als medizinisch austherapiert. Sein Testament war bereits geschrieben, als er schließlich an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen wurde, die für höchstens zehn Tage sein Überleben sichern konnte. "Mir war auch klar, es wird in den acht Tagen wahrscheinlich kein Herz kommen", erinnert sich Thomas Krauß. So bekam er ein künstliches.

Seit drei Jahren überlebt er nur dank einer implantierten Pumpe, die von außen mit Strom versorgt wird. Schon seit vier Jahren steht er auf der Warteliste für ein Spenderherz. Doch es gibt ein Dilemma: Solange die Pumpe ihren Dienst tut und sich der organische Zustand des Mannes nicht verschlechtert, kommt Thomas Krauß nicht auf die HU-Liste – sein Fall gilt also nicht als dringlich. Professor Christian Hagl, der ihm 2019 das Kunstherz im Klinikum Großhadern in München eingesetzt hat, bringt es auf den Punkt: "Sie kommen erst auf so eine Liste, wenn sie eine Komplikation am Unterstützungssystem haben. Das ist ja eigentlich die groteske Wahrheit: Wir müssen warten, bis etwas Unvorhergesehenes passiert." Thomas Krauß muss es also erst schlecht gehen, damit er Aussicht auf ein Herz hat. Doch wie lange wird die künstliche Pumpe ihren Dienst noch tun? Und: Findet man dann im Notfall auf die Schnelle ein Herz für ihn?

Die Zahl der Spender sinkt

Diese Sorge ist berechtigt, denn längst nicht alle überleben das Warten auf ein Spenderorgan. In Deutschland sterben rund 10 Prozent auf der Warteliste. 2021 waren das 826 Patienten. Und die Zahl der Spender sinkt währenddessen weiter: 2021 gab es von Januar bis September laut der Deutschen Stiftung Organspende 696 Postmortale Organspender. In diesem Jahr sank die Zahl auf 636. Ein Minus von 8,6 Prozent. In Bayern ist der Rückgang sogar noch drastischer: Während 2020 noch 428 Organe von 131 Menschen gespendet wurden, waren es 2021 nur noch 356 von 110 verstorbenen Personen. Die Zahl der Herzen sank im Freistaat von 50 auf 32.

Immer weniger Menschen spenden Organe. Doch wieso? Laut Professor Alena Buyx, der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, wollen die meisten Menschen grundsätzlich spenden. Über 70 Prozent der Deutschen stehen einer Organspende positiv gegenüber, sagt sie. Was ist also das Problem? "Menschen denken nicht gern über ihren Tod nach. Da gibt es eine Zurückhaltung, vielleicht auch eine gewisse Trägheit, sodass eigentlich nur so ungefähr um die 40 Prozent der Menschen dann tatsächlich aufschreiben: Ja, ich bin Organspenderin und Organspender", so Buyx.

In Deutschland gilt die Entscheidungslösung

Da in Deutschland die Entscheidungslösung gilt, können Organe und Gewebe nach dem Tod nur entnommen werden, wenn zu Lebzeiten eine Zustimmung beispielsweise in Form eines Organspendeausweises gegeben wurde. Liegt keine persönliche Entscheidung vor, dürfen die Angehörigen nach dem Tod bestimmen.

Mehr Organe dank Widerspruchslösung

In den meisten europäischen Ländern gilt aber die Widerspruchslösung: Dabei sind alle potenzielle Organspender - es sei denn, sie widersprechen zu Lebzeiten. Allerdings können die Angehörigen nach dem Tod der Organspende immer noch widersprechen, auch wenn das zu Lebzeiten vom Verstorbenen nicht getan wurde. Das Ergebnis ist trotzdem eklatant: Länder mit Widerspruchslösung haben sehr viel höhere Spenderzahlen. Ganz vorne dabei sind Spanien und Österreich: "Wenn sie dort auf einer dringlichen Liste sind für ein Herz, dann warten sie einige Wochen, manchmal nur einige Tage", berichtet Professor Christian Hagl.

Konkret in Zahlen liest sich das so: 2021 spendeten in Deutschland rund 11 Menschen pro eine Million Einwohner nach ihrem Tod Organe. In Österreich gab es fast doppelt so viele Organspender. In Spanien sogar rund viermal so viele. Wäre dann nicht auch in Deutschland die Einführung einer Widerspruchslösung sinnvoll?

Politische Vorstöße scheitern an der Uneinigkeit in ethischen Fragen

Politische Vorstöße in diese Richtung scheitern seit Jahrzehnten. Zuletzt Anfang 2020: Nach einer emotionalen Debatte hat der Bundestag über den Gesetzentwurf des SPD-Politikers Karl Lauterbach abgestimmt – und die vorgeschlagene Widerspruchslösung abgelehnt. Momentan sieht es nicht so aus, als ob sich der Bundestag in nächster Zeit noch einmal mit der Widerspruchslösung beschäftigen wird. Eine entsprechende Initiative ist nicht in Sicht.

Doch auch die Gegner haben gute Argumente: "Ich glaube aus ethischer Sicht ist die Zustimmungslösung eigentlich die konsequentere Lösung, weil die Menschen ganz unterschiedliche Vorstellungen haben, was mit ihnen passieren soll, wenn sie gestorben sind, sodass es eigentlich schon konsequenter ist, wenn man den Einzelnen bittet, sich zu erklären, ob er bereit ist, in dieser Situation Organe zu spenden", sagt Medizinethiker Professor Georg Marckmann.

Strukturelle Probleme an deutschen Krankenhäusern

Transplantationsmediziner beklagen indes, dass es auch das vom Bundestag beschlossene Online-Register für Organspender noch immer nicht gibt. Auf Nachfrage teilt das Bundesgesundheitsministerium mit, dass sich potenzielle Spender erst frühestens ab Ende 2023 eintragen können.

Dazu kommen offenbar noch strukturelle Probleme bei den deutschen Krankenhäusern: Sie kommen der Verpflichtung, potenzielle Spender zu melden, offenbar nicht immer nach. Der Grund: wirtschaftliche und logistische Aspekte. Oder, wie es Professor Christian Hagl auf den Punkt bringt: "Für die Krankenhäuser bedeutet das: Ich muss ein Bett auf der Intensivstation zur Verfügung stellen, ich muss einen Operationssaal zur Verfügung stellen. Ich muss Dinge tun, die logistisch aufwendig sind."

Warten auf das passende Herz

Auch Anne Hilgendorff wartet auf ein neues Herz. Die 47-Jährige leidet an lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen, die durch ein Kunstherz laut der Ärzte wahrscheinlich nicht behoben werden könnten. Der alleinerziehenden Mutter geht es so schlecht, dass sie die Intensivstation nicht mehr verlassen kann. Im Gegensatz zu Thomas Krauß steht sie auf der High Urgency Liste für ein neues Organ. Aber dennoch wartete Anne Hilgendorff über vier Monate. Mehrmals wäre es fast soweit gewesen, doch alle Herzen wurden abgelehnt, weil sie den Anforderungen nicht genügten.

Offenbar kommt es in Deutschland trotzdem immer wieder vor, dass Organe transplantiert werden, die nicht optimal sind – aus Mangel an Organen. "Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass wir Organe transplantieren beispielsweise, die in anderen Ländern erst gar nicht transplantiert würden. Einfach deswegen, weil wir keine andere Möglichkeit haben", räumt Dr. Günther Matheis, Vizepräsident der Bundesärztekammer, ein.

Gute Nachrichten gibt es für Anne Hilgendorff erst nach 137 Tagen: Ihr Warten hat ein Ende, es gibt ein passendes Herz. Damit gehört sie zu den wenigen Glücklichen, die in diesem Jahr ein neues Herz bekommen haben. Manchmal kann sie es selbst kaum fassen: "Es vergeht kein Tag ohne einen Gedanken daran, ohne die Dankbarkeit und ohne einen Gedanken daran, dass das etwas ganz Besonderes ist", sagt sie.

Organspendeausweis (Symbolbild)
Bildrechte: BR/Sylvia Bentele

Organspendeausweis (Symbolbild)

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