Blick in einen Rettungswagen in München
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Blick in einen Rettungswagen in München

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Gewalt gegen Rettungskräfte: Das sagen die Zahlen

Dass sich Angriffe auf Notärzte, Sanitäter und Feuerwehrleute häufen, berichten Betroffene immer wieder. Der #Faktenfuchs untersucht, ob sich der gefühlte Anstieg mit Zahlen belegen lässt.

Ein Notarzt aus Bayern beklagt auf Twitter, die Übergriffe gegen Einsatzkräfte würden immer mehr und gewalttätiger: "Wenn man als Arzt, Pfleger, Sanitäter oder Feuerwehrmann Angst um seine eigene Gesundheit haben muss, nur weil man versucht euch zu helfen, dann läuft irgendetwas gewaltig schief", schreibt er und bekommt dafür tausendfach Zustimmung im Netz. Auch von einem Nutzer, der aber bezweifelt, dass sich der gefühlte Anstieg tatsächlich mit Zahlen belegen lässt: "Ich wäre wirklich vorsichtig damit, zu behaupten, dass diese Übergriffe zunehmen. Ich habe nirgendwo belastbare Informationen dazu gefunden, weißt du da mehr?"

  • Dieser Artikel stammt aus 2019. Alle aktuellen #Faktenfuchs-Artikel finden Sie hier

Leichter Anstieg bei registrierten Straftaten

Zu Übergriffen auf Rettungskräfte gibt es unterschiedliche Zahlen, zum Beispiel aus der Kriminalstatistik der Polizei, aus wissenschaftlichen Studien oder Meldesystemen bei den Rettungsdiensten selbst. Keine davon kann aber eine valide und abschließende Aussage darüber treffen, wie gravierend oder "gewalttätig" die Angriffe waren. Denn jeder Mensch erlebt und bewertet Gewalt anders.

Das bayerische Landeskriminalamt (LKA) hat für BR24 auf Grundlage der Polizeilichen Kriminalstatistik die Zahl gemeldeter Straftaten gegen Notärzte, Sanitäter und Feuerwehrleute ausgewertet. Demnach stellte die Behörde seit 2012 einen leichten Anstieg fest: Im Jahr 2017 wurden 327 Straftaten angezeigt, bei denen Einsatzkräfte als Opfer erfasst wurden. Das sind neun Fälle mehr als im Vorjahr (2016) und 62 mehr als im Vergleichsjahr 2012. Die Zahlen für vergangenes Jahr werden voraussichtlich im März veröffentlicht.

Bildrechte: Bayerisches Landeskriminalamt, Auswertung der sogenannten Opferdelikte aus der Polizeilichen Kriminalstatistik 2012-17 / Grafik: BR
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Straftaten gegenüber Rettungskräften und Feuerwehr (ohne Polizeivollzugsbeamte)

Das LKA macht darauf aufmerksam, dass in diesem Zeitraum aber auch die Bevölkerungszahl in Bayern stieg. Bezieht man diesen Faktor mit ein, gab es im Jahr 2012 pro Hunderttausend Einwohner 2,1 Angriffe und 2,5 Angriffe im Jahr 2017. Damit ist in Bezug auf die Einwohnerzahl ein leichter Anstieg an registrierten Straftaten gegen Rettungskräfte zu verzeichnen. Im Verhältnis zu den gefahrenen Einsätzen wurden Rettungskräfte und Feuerwehrleute im Jahr 2012 bei jedem 6.805ten Einsatz attackiert, fünf Jahre später schon bei jedem 6.424ten. (Hierzu die Einsatzzahlen der Feuerwehren 2012 und 2017 und des Bayerischen Roten Kreuzes.)

Änderung im Strafgesetz

Im Jahr 2017 wurde das Strafgesetz geändert und der Strafrahmen für Angriffe gegen Rettungskräfte verschärft. Laut dem bayerischem Landeskriminalamt hat das zur Folge, dass die Zahlen, die demnächst für 2018 vorliegen, nicht direkt mit den Vorjahren vergleichbar sind. Anlass für die Gesetzesänderung waren dem Justizministerium zufolge "eine Vielzahl von Einzelfällen", in denen Rettungskräfte und Polizisten attackiert worden waren, und die Empörung in der Gesellschaft und Politik, die darauf folgte.

Ein massiver Anstieg der gemeldeten Straftaten ist - zumindest in Bayern - nicht zu erkennen. Und selbst wenn es ihn gäbe: Der LKA-Sprecher macht darauf aufmerksam, dass eine Zunahme auch damit zusammenhängen könne, dass mehr darüber gesprochen werde. Messen lässt sich der Einfluss öffentlicher Debatten auf das Anzeigeverhalten der Menschen aber kaum.

Bildrechte: Bayerisches Landesamt für Statistik www.statistik.bayern.de / Grafik: BR
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2012 und 2017 im Vergleich

Bayerisches Rotes Kreuz: "Hohe Dunkelziffer"

Beim Bayerischen Roten Kreuz (BRK) meldeten die Rettungskräfte für das vergangene Jahr in einem internen Meldesystem 99 Übergriffe. Bei etwa zwei Millionen Einsätzen im Jahr sei das auf den ersten Blick nicht besonders viel - im Vergleich zum Vorjahr sogar weniger, sagte Sohrab Taheri-Sohi vom BRK. "Jeder Angriff ist aber ein Angriff zu viel." Er wies dabei auch auf eine hohe Dunkelziffer hin: Viele Kollegen meldeten Vorfälle nicht, weil sie Attacken in ihrem Beruf als normal empfänden oder das Gefühl hätten, Strafanzeigen bei der Polizei bringen häufig nichts. Wie die Auswertung außerdem zeigt, waren mehr als die Hälfte der Angreifer alkoholisiert.

NRW-Studie zur Gewalt gegen Einsatzkräfte

Deutlicher zeigt sich das Ausmaß der Übergriffe in einer Untersuchung, die die Situation in Nordrhein-Westfalen beleuchtet. Sie wurde unter anderem vom Innenministerium des Landes in Auftrag gegeben und Anfang 2018 veröffentlicht. Die Erkenntnisse darin decken sich auch mit den Erfahrungen des bayerischen Notarztes auf Twitter.

In einer Umfrage wurden über 800 Einsatzkräfte zu ihren Gewalterfahrungen im Dienst befragt. So stellten die Forscher unter anderem fest, dass Rettungsdienste deutlich häufiger attackiert wurden als Feuerwehrleute. Von den befragten Rettungsdiensten, also Notärzten und Sanitätern, gaben 92 Prozent an, innerhalb der zurückliegenden zwölf Monate zum Beispiel beleidigt oder bedroht worden seien. Jeder Vierte bestätigte, Opfer körperlicher Angriffe geworden zu sein. Die Angreifer seien in den meisten Fällen die Patienten selbst und viele seien alkoholisiert.

Kritik an Polizeilicher Kriminalstatistik

Die Zahlen aus der polizeilichen Kriminalstatistik halten die Autoren der NRW-Studie für "nicht aussagekräftig", sie seien kaum mit der direkten Befragung von Betroffenen vergleichbar. Ebenso wie das Bayerische Rote Kreuz wiesen die Forscher bei den Daten der Polizei auf ein "erhebliches Dunkelfeld" hin - also Fälle, in denen Rettungskräfte erst gar keine Anzeige erstatteten und die demnach nicht in der Statistik auftauchen.

"Die polizeiliche Kriminalstatistik des Landes Nordrhein-Westfalen erfasst die offiziell registrierte (d.h. angezeigte) Gewalt. Die sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene erscheinende Kriminalstatistik gibt Aufschluss über die polizeilich registrierte Kriminalität des vorangegangenen Jahres. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass es sich lediglich um die Fälle handelt, die der Polizei zur Kenntnis gebracht, also in diesem Zeitraum angezeigt wurden."Studie vom Januar 2018, Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehren und Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen

In der NRW-Studie gaben zum Beispiel etwa 80 Prozent der betroffenen Einsatzkräfte an, einen Übergriff gar nicht erst gemeldet zu haben. Die meisten hielten die Tat für nicht schlimm genug oder meinten, dass sich an der Situation ohnehin nichts ändern würde.

Der Befragung zufolge sind also tatsächlich viele Rettungskräfte, allen voran Notärzte und Sanitäter, von Übergriffen im Dienst betroffen. Die Gewalt habe im Vergleich zu einer ähnlichen Studie aus dem Jahr 2011 aber nicht zugenommen:

"Die vorliegende Untersuchung sollte Aufschluss darüber geben, ob die Gewalt gegen Einsatzkräfte zugenommen hat. Vergleicht man die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung mit der Studie aus dem Jahr 2011, lassen sich solche Entwicklungstendenzen nicht erkennen." Studie vom Januar 2018, Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehren und Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen

Vergleichbare Ergebnisse für Bayern?

Eine vergleichbare Studie für den Freistaat sei dem Bayerischem Innenministerium nicht bekannt. Ein Sprecher teilte auf Nachfrage mit: "Es wären auch keine entscheidend anderen Ergebnisse im Vergleich zu NRW zu erwarten."

Fazit: Zahlen zu Übergriffen gegen Rettungskräfte gibt es von unterschiedlichen Seiten, zum Beispiel aus der Kriminalstatistik der Polizei, wissenschaftlichen Studien oder internen Meldesystemen wie die des Roten Kreuzes. Einen drastischen Anstieg stellt keine dieser Erhebungen fest.

Die Zahlen der Kriminalstatistik werden häufig kritisiert, da sie lediglich Fälle erfasst, die bei der Polizei angezeigt wurden. Alle Beteiligten weisen auf ein Dunkelfeld hin, da Betroffene Attacken nicht immer meldeten. Eine aktuelle Studie für Nordrhein-Westfalen kommt zu dem Schluss: Besonders Notärzte und Sanitäter sind von Übergriffen betroffen. Die Gewalt hat - im Vergleich zu einer ähnlichen Studie von 2011 - aber nicht zugenommen.

Gefühlt steigt die Gewalt, doch was sagen die Zahlen?
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