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Was die Zahlen zur Gewalt gegen queere Personen wirklich sagen

"Massive Zunahme queerfeindlicher Gewalt", "Straftaten versiebenfacht" - seit der Veröffentlichung des Bayerischen Sozialministeriums zur Situation von LSBTIQ-Personen ist die Empörung groß. Bei genauer Betrachtung ergibt sich aber ein anderes Bild.

Ausgelöst hat die aktuelle Debatte zur Situation von LSBTIQ-Personen die 168 Seiten umfassende Antwort des Bayerischen Sozialministeriums auf die parlamentarische Anfrage der Landtags-Grünen "Queer in Bayern - damals, heute und in Zukunft". Darin wird auf Statistiken des Bayerischen Landeskriminalamts Bezug genommen, wonach sich Straftaten gegen queere Menschen im Zeitraum von 2010 bis 2021 fast versiebenfacht hätten. Konkret sei die Zahl der registrierten Delikte von 13 im Jahr 2010 auf 88 Delikte im Jahr 2021 gestiegen. 

Das Bayerische Landeskriminalamt (BLKA) hat auf BR-Nachfrage erklärt: "Ob die Zunahme der Fallzahlen bei einem Vergleich der Jahre 2010 und 2021 auf einer Steigerung der tatsächlichen Kriminalitätslage … beruht, kann allein anhand der vorliegenden Fallzahlen nicht belastbar bewertet werden." Wie kommt das BLKA zu dieser Ansicht, wenn doch die selbst erfassten Zahlen scheinbar eine andere Sprache sprechen? 

Neu eingeführte Straftatenkategorie verzerrt Statistik 

Ein wesentlicher Grund: Ein Teil der Fälle wurde in der Vergangenheit unter anderen Kategorien erfasst. Von 2010 bis 2019 gab es in Bezug auf LSBTIQ-Personen nur die Unterkategorie "gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Straftaten." In diesem Zeitraum stiegen die Zahlen zunächst von 13 Anzeigen auf 49 im Jahr 2014, um dann auf elf Fälle im Jahr 2018 zu fallen. 2019 waren es 29.

Ab 2020 wurde von Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern zusätzlich eine neue Unterkategorie "Geschlecht/Sexuelle Identität" eingeführt. Deshalb stiegen die Zahlen daraufhin 2020 auf 48 und 2021 auf 88. Ein großer Teil des Anstiegs ging aber allein auf das neu eingeführte Themenfeld zurück, das es vorher nicht gab. 

Vermutlich verändertes Anzeigeverhalten 

Das Bayerische Landeskriminalamt verweist in seiner Stellungnahme darauf, dass die Polizei in den letzten Jahren eigene Melde- und Beratungsstellen (z.B. Beispiel Beauftragte für Kriminalitätsopfer) eingerichtet hat. Dazu entstand extern die staatlich geförderte Anlaufsstelle "Strong!" für Betroffene. In Kooperation zwischen Bayern und Baden-Württemberg wurde die Online-Meldeplattform "Respect!" geschaffen.

Das BLKA geht davon aus, dass die Hemmungen, Vorfälle zu melden, bei den Betroffenen gesunken sind. Mit anderen Worten: Mehr Opfer als früher trauen sich, aufgrund dieser niedrigschwelligen Angebote, Gewalttaten oder Beleidigungen bei der Polizei zu melden. 

Vorsicht geboten ist bei der Interpretation der Zahlen auch beim Umrechnen in Prozent: Da es sich um Fallzahlen im zweistelligen Bereich handelt, ist eine Steigerung um einige Fälle schnell mit einer Vervielfachung der Prozentzahlen verbunden. Eben: von 13 auf 88 Fälle ein Anstieg um 75 Fälle oder das Siebenfache. In der Gesamtabwägung all dieser und weiterer Einflussfaktoren kommt das BLKA deshalb zu dem Schluss, dass "andere Faktoren für die Zunahme der registrierten Fälle ausschlaggebend sind." 

Gewalt gegen queere Menschen ist Alltag in Bayern 

Enrico wird in Dingolfing erst als "Schwuchtel" bezeichnet, dann von dem Beleidiger bewusstlos geschlagen. Nur ein Fall von vielen, die der LSBTIQ-Fachstelle "Strong!" bekannt sind. Die Betroffeneneinrichtung erfasst seit 2020 systematisch und bayernweit Übergriffe auf queere Menschen und hat andere Zahlen als die Polizei. 2020 meldeten sich bei "Strong!“ 101 Personen, 2021 dann 165 und letztes Jahr 159.

Den zwischenzeitlichen Anstieg führt Beraterin Bettina Glöggler darauf zurück, dass "Strong!" nach der Gründung erst richtig bekannt wurde und deshalb nach und nach auch immer mehr Opfer überhaupt von dieser Anlaufstelle erfuhren. Dass es deshalb tatsächlich zu mehr Gewalttaten gekommen sei, könne man daraus nicht ableiten. "Wir gehen aber von einer hohen Dunkelziffer aus,", so die Psychologin, Gewalt gegen Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intersexuelle Menschen sei leider auch in Bayern kein Ausnahmephänomen, sondern Alltag. 

Betroffenenstellen fordern Aktionsplan für Bayern 

Nach Angaben des Lesben- und Schwulenverbands (LSVD) ist Bayern das einzige Bundesland das noch keinen Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie hat. Nordrhein-Westfalen hat demnach schon seit 2012 als erstes Flächenland einen Aktionsplan. Über 100 Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung und Akzeptanz von LSBTIQ-Personen wurden danach umsetzt. Der LSVD hat 2020 die Erstellung eines solchen Plans in Bayern gefordert und dazu im Landtag über 2.000 Unterschriften der Petition "Aktionsplan Queeres Bayern" den Fraktionen übergeben. Mit ihrer Interpellation haben die Grünen das Thema aufgegriffen. Unterstützt werden sie dabei auch von "Strong!": Es sei besonders fragwürdig, warum Bayern als einziges Bundesland in Deutschland noch keinen entsprechenden Aktionsplan habe. Er könne helfen, Diskriminierung und Gewalt gegen LSBTIQ-Personen sichtbar zu machen und konkrete Maßnahmen einzuleiten. 

  • Zum Artikel: "Queer" auf dem Land: Reichen die Angebote?
  • Redaktionelle Anmerkung: In dem Artikel wurde ein Fallbeispiel auf Wunsch der darin beschriebenen Person nachträglich entfernt.

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