Der Obermayer Award wird jährlich von der Obermayer Foundation, einer Stiftung aus der Stadt West Newton in Massachusetts, vergeben. Geehrt werden deutsche Bürger, die besondere Beiträge leisteten, um die jüdische Geschichte und Kultur ihrer Gemeinden zu erhalten. Dieses Jahr gehört ein Ehepaar aus Bad Kissingen zu den Preisträgern. Verliehen wird die Auszeichnung in Berlin.
Erinnerungsarbeit vor 35 Jahren gestartet
Marlies und Rudolf Walter haben ihre Erinnerungsarbeit vor genau 35 Jahren mit einer Ausstellung zur jüdischen Geschichte in Bad Kissingen begonnen, die sie gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums gestalteten. Bis heute ist sie als Dauerausstellung im jüdischen Gemeindehaus in der Promenadenstraße unweit der ehemaligen Synagoge zu sehen. Als wesentlichen Auslöser für diese Arbeit nennt Rudolf Walter den Zeitgeist der 1968er-Bewegung. Damals seien Fragen gestellt worden. "Wie kam es zu dieser Katastrophe in der deutschen Geschichte, zu diesem sogenannten Dritten Reich mit all seinen Folgen?", erinnert er sich.
Kampf gegen das Schweigen
Auch in Bad Kissingen, wohin Walter im Jahr 1980 als junger Lehrer kam, ging man der Vergangenheit auf den Grund. "Wie in vielen anderen Städten wollten die Menschen wissen, was damals los war und was mit jüdischen Bürgern passierte", so Walter, "denn das wurde ja weitgehend totgeschwiegen." Und weil "hier bis zu diesem Zeitpunkt wenig darüber bekannt war" leistete die Ausstellung über jüdisches Leben in Bad Kissingen wesentliche Aufklärungsarbeit. Sie wurde im November 1988 zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht organisiert und von der Stadtverwaltung unterstützt.
Vom Zwei-Wochen-Projekt zur Dauerausstellung
Dieses Projekt sollte nur 14 Tage lang zu sehen sein, wurde aber ein so großer Erfolg, dass die Stadt entschied, daraus eine Dauerausstellung im jüdischen Gemeindehaus zu etablieren. Die Verwaltung nennt sie längst einen "festen Bestandteil im kulturellen Angebot der Stadt". Bis heute wird sie ständig überarbeitet und weitergeführt. Daran änderten auch Anfeindungen bei der Vorbereitung und Gestaltung nichts. "Wir wissen, dass die Schule damals Hassbriefe bekam, wie man heute sagen würde", so Marlies Walter. "Eine Schülerin wurde auch persönlich beschimpft." Seitdem gab es jedoch keine negativen Reaktionen mehr.
Mit dem Obermayer Award werden Menschen ausgezeichnet, die sich für die Bewahrung der jüdischen Geschichte und Kultur einsetzen.
Jüdische Vergangenheit in Bad Kissingen
Vor dem Krieg lebten mehrere Hundert Juden in Bad Kissingen, doch danach gab es hier keine jüdische Gemeinde mehr. Rudolf Walter blieb dem Thema verbunden und erforschte weiter die jüdische Vergangenheit in der Kurstadt. "Die vielen Kontakte, die zu jüdischen Bürgern entstanden, als sie die Stadt besuchten" motivieren ihn nach wie vor. Nach seiner Pensionierung kümmert er sich verstärkt darum.
Jack Steinberger als berühmtester Sohn der Stadt
Ebenfalls 1988 erhielt der gebürtige Kissinger Jack Steinberger einen Nobelpreis für Physik für seine Grundlagenforschung über Neutrinos. "Als er zwei Jahre zuvor Bad Kissingen besuchte, nahm noch kaum jemand Notiz von ihm", schmunzelt Marlies Walter. Gemeinsam mit ihrem Mann setzte sie sich maßgeblich dafür ein, dass das Gymnasium in Bad Kissingen fortan seinen Namen trug. Steinberger war dort Schüler von 1931 bis 1934, bevor ihn seine Eltern wegen des zunehmenden NS-Terrors mit Hilfe einer karitativen jüdischen Organisation in die USA schickten. Sein Vater Ludwig Steinberger war jüdischer Kantor und Religionslehrer in der Stadt.
Nichte schlägt Steinbergers für die Auszeichnung vor
Eine Nichte Steinbergers schlug Marlies und Rudolf Walter nun für einen Obermayer-Award vor. Damit werden Einzelpersonen und Organisationen in Deutschland ausgezeichnet, die mit kreativem und uneigennützigem Engagement dazu beitragen, jüdische Geschichte und Kultur in ihren Regionen zu bewahren. Für die Nominierung der Walters fand die Verwandte des Nobelpreisträgers eine Reihe von Argumenten. Wobei die Dauerausstellung der Ansatz war, weil sie eine Auseinandersetzung der Stadt Bad Kissingen mit ihrer NS-Vergangenheit begründete. Dort beschäftigt man sich seitdem intensiv mit der eigenen jüdischen Geschichte.
Buch über "Jüdisches Leben"
Die Dauerausstellung diente auch als Grundlage für das Buch "Jüdisches Leben in Bad Kissingen", das Rudolf Walter im Jahr 1990 mitverfasste. Anschließend entwickelte er ein Didaktisches Konzept im Rahmen des Geschichtsunterrichts. Zudem entstand 2006 ein Archiv-Projekt für die 9. Jahrgangsstufe: Die "Neue Synagoge" in Bad Kissingen, wozu Materialien auf der Homepage des "Historischen Forums Bayern" verfügbar sind und bayernweit für den Geschichtsunterricht genutzt werden können. Marlies Walter arbeitete ebenfalls an der Ausstellung mit und betreut sie seit 1999 im jüdischen Gemeindehaus. Sie schuf die Basis für eine Annäherung und Versöhnung vieler früherer Kissinger Juden mit ihrer Geburtsstadt. "Wir bekommen sehr viel positive Resonanz von ehemaligen Kissinger Juden beziehungsweise nun von deren Nachkommen, von Kindern und Enkeln, die Bad Kissingen besuchen", sagt Marlies Walter.
Kontaktpflege zu jüdischen Familien
Marlies Walter betreibt Kontaktpflege bei Familientreffen und Besuchen in Bad Kissingen und bietet ehrenamtlich Führungen zur jüdischen Geschichte Bad Kissingens für Schulklassen und Besuchergruppen an. Daraus resultieren für sie übers Jahr 20 bis 30 Veranstaltungen. "Manche kommen regelmäßig nach Bad Kissingen. Wie früher Jack Steinberger oder heute seine Nichte", erläutert sie, "andere melden ihren Besuch kurzfristig an, zum Beispiel während einer Deutschlandreise, und fragen, ob sie jemand durch die Stadt ihrer Vorfahren führen und zeigen kann, wo ihre Verwandten einst gelebt haben."
Mehr als 70 Stolpersteine
Seit 20 Jahren arbeitet Marlies Walter auch bei den Jüdischen Kulturtagen Bad Kissingen mit. Und von Beginn an engagierte sie sich in der "Stolperstein-Initiative Bad Kissingen". Seit Sommer 2009 wurden mehr als 70 dieser Gedenksteine in der Stadt verlegt. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts gibt es einen jüdischen Friedhof in Bad Kissingen. Als er vor einigen Jahren geschändet wurde, organisierte das Ehepaar Walter spontan eine Protestdemonstration. In den letzten Jahren wurde ein Online-Gedenkbuch über Bad Kissinger Juden zu einem herausragenden Projekt der Walters. Nach aufwändigen Recherchen in vielen Archiven sind darin inzwischen etwa 700 Kurzbiografien erfasst. Das Buch entstand nach jahrelangen Vorbereitungen, wird immer wieder ergänzt und aktualisiert. Die Stadtverwaltung nennt es mittlerweile "ein Vorzeigeprojekt für Bad Kissingen, ja für ganz Unterfranken".
Umfassende Chronik
Anders als in Gedenkbüchern anderer Städte wird in Bad Kissingen nicht nur an die Opfer erinnert, die in den Vernichtungslagern ermordet wurden, sondern auch an die jüdischen Bürgerinnen und Bürger, die sich durch Flucht und Emigration der Vernichtung entziehen konnten und überlebt haben. "Vom Ehepaar Walter stammen Idee und Konzept für dieses ambitionierte Projekt, das von ihnen unentgeltlich und in Eigenregie umgesetzt wurde", heißt es von der Stadtverwaltung. Falls möglich, werden Lebensläufe und Schicksale mit Hilfe von Fotos und Dokumenten rekonstruiert, so entsteht ein lebendiges Bild der Personen.
"Erst vor ein paar Tagen erhielten wir eine E-Mail von einem Herrn aus Israel, der entdeckt hatte, dass seine Großmutter in dem Gedenkbuch auftaucht", erzählt Marlies Walter, "nun bat er uns um nähere Informationen zu ihrem Leben in Bad Kissingen". Weitere Menüpunkte neben den Biografien sind historische Reminiszenzen. Etwa Artikel zur Ausgrenzung, Emigration und Deportation der Kissinger Juden sowie ein Film mit einer virtuellen Rekonstruktion der Kissinger Synagoge und ein interaktiver Stadtplan, auf dem sich jüdische Kultureinrichtungen, Geschäfte, Kurbetriebe, Sanatorien anklicken lassen.
Gegen Hass und Vorurteile
Seit mehr als zwei Jahrzehnten und immer rund um den Internationalen Holocaust-Gedenktag verleihen Obermayer-Stiftung und Widen the Circle (USA) im Berliner Abgeordnetenhaus die Obermayer-Awards. Damit werden Bürgerinnen und Bürger geehrt, die in ihren Heimatstädten und Regionen an die durch das NS-Regime zerstörten jüdischen Gemeinden erinnern. Preisträger wird, wer auf freiwilliger Basis einen herausragenden Beitrag zur Wahrung des Gedenkens an die jüdische Vergangenheit leistet und Hass, Vorurteilen sowie Antisemitismus entgegenwirkt – wie Marlies und Rudolf Walter in Bad Kissingen.
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