Immer wieder öffnet Charlotte in ihrem Bettchen auf der Neugeborenen-Station für einen Moment die Augen. Sie streckt vorsichtig ihre kleinen Finger aus, verzieht ihre Mundwinkel - mal nach oben, mal nach unten. Etwas mehr als 1.600 Gramm zeigt die Waage derzeit an, bei ihrer Geburt vor zwei Monaten war es gerade mal die Hälfte. Charlotte kam in der 27. Schwangerschaftswoche in der Regensburger Kinderklinik St. Hedwig zur Welt.
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Milchmangel nach der Geburt
Mutter Annette Lindl hatte Komplikationen in der Schwangerschaft. Nach der Geburt tut sich Charlotte schwer mit der Atmung, ihre Mama mit der Milchbildung. Damit ist Annette Lindl nicht allein, weiß Stefanie Bruhn, Still- und Laktationsberaterin an der Hedwigsklinik: "Gerade nach einer zu frühen Geburt oder nach der Geburt eines reifgeborenen Kindes mit Komplikationen sehen wir es in der Praxis sehr, sehr oft, dass die Mütter in den ersten Tagen etwas mehr Zeit brauchen, um in die ausreichende Milchbildung zu kommen."
Neben der körperlichen Belastung kann unter anderem psychischer Stress die Milchproduktion hemmen.
Momentan bekommt Charlotte im Krankenhaus noch Unterstützung beim Atmen. Ernährt wird sie mithilfe einer Magensonde.
Zahlreiche Substanzen in Muttermilch
Wie Professor Sven Wellmann, Leiter der Neugeborenen-Intensivmedizin an der Regensburger Klinik, erklärt, ist Muttermilch ein kostbares Gut. "Sie enthält neben Wasser, Zuckerstoffen, Fetten und Eiweißen Hunderte weitere Substanzen, zu denen auch Wachstumsfaktoren und sogar Stammzellen gehören", so Wellmann. "Das ist eine Komposition, die von der Industrie mit einer Ersatzmilch gar nicht so einfach zu kopieren ist."
Außerdem sei Muttermilch für Kinder, die nach der Geburt nur 400 bis 500 Gramm wögen und einen empfindlichen Darm hätten, deutlich besser verträglich als kuhmilchbasierte Ersatznahrung.
100.000 Euro für neue Milchbank
Annette Lindl und ihr Mann Fabian entscheiden sich für gespendete Muttermilch. Damit wird Charlotte am Anfang ernährt. Sie kommt von der Frauenmilchbank der Kinderklinik Dritter Orden in Passau. Eine solche Milchbank gibt es seit Mitte November an der Klinik St. Hedwig selbst, unter anderem weil laut Wellmann der Bedarf an Spenderinnenmilch größer ist als das Angebot. Der Aufbau kostete etwa 100.000 Euro und wurde hauptsächlich durch Stiftungsgelder finanziert.
In einer Milchküche an der Regensburger Klinik wird gespendete Muttermilch auf verschiedene Fläschchen aufgeteilt.
Vier Frauenmilchbanken in Bayern
Nach Angaben des Vereins Frauenmilchbank-Initiative (FMBI) existieren in ganz Deutschland aktuell 39 Frauenmilchbanken an Kliniken. In Bayern verfügen neben den beiden Krankenhäusern in Regensburg und Passau das Josefinum in Augsburg und das Klinikum der Universität München jeweils über eine.
Muttermilch sammeln - kein neues Phänomen
Die Idee hinter den Frauenmilchbanken ist nicht neu. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es der FMBI zufolge Versuche gegeben, Muttermilch für bedürftige Neugeborene zu sammeln. Es entstanden verschiedene sogenannte Frauenmilchsammelstellen.
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen diese Einrichtungen in Westdeutschland nach und nach. Als ein Grund wird das verstärkte Aufkommen von sogenannter Formula-Nahrung durch die Industrie genannt. In Ostdeutschland waren die Sammelstellen laut der Frauenmilchbank-Initiative staatlich gefördert. Etwa 60 davon soll es bis zur Wiedervereinigung gegeben haben.
Verschiedene Voraussetzungen für eine Spende
Für eine Spende kommen in Regensburg grundsätzlich Frauen infrage, die gesund sind, kürzlich in der Klinik entbunden und einen Überschuss an Milch haben. In der Regel sind es Mamas von Frühchen, die einige Wochen nach der Geburt mehr Milch produzieren, als sie für ihr eigenes Kind benötigen, sagt Professor Sven Wellmann: "Mütter von Termingeborenen haben selten einen Überschuss, denn diese Säuglinge brauchen größere Mengen Milch am Tag als Frühgeborene."
In einem sogenannten Reinraum der Apotheke der Hedwigsklinik wird die gespendete Muttermilch pasteurisiert.
Abpumpen, untersuchen, pasteurisieren
Erklärt sich eine Frau, die die medizinischen Voraussetzungen erfüllt, zu einer Spende bereit, pumpt sie vor Ort in der Hedwigsklinik Milch ab. Geld bekommt sie dafür nicht. Labormitarbeitende untersuchen die abgepumpte Muttermilch auf Keime. In der krankenhauseigenen Apotheke wird sie in Fläschchen bei 62,5 Grad für eine halbe Stunde pasteurisiert. Im Anschluss kommt die Milch in den Schockfroster. So ist sie mehrere Monate haltbar und kann bei Bedarf aufgetaut werden.
Jährlich Zehntausende Frühgeburten in Deutschland
In der Klinik in Regensburg kamen vergangenes Jahr rund 500 der insgesamt knapp 4.000 geborenen Kinder als Frühchen zur Welt. Davon hatten fast 100 der Frühgeborenen ein Anfangsgewicht von unter 1.500 Gramm. Nach den aktuellsten Zahlen des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen waren acht Prozent der im Jahr 2020 in ganz Deutschland geborenen Kinder Frühgeburten.
Von Mutter zu Mutter
Annette Lindl hat inzwischen genügend Milch und ist nun selbst Spenderin. Lange überlegen musste sie dafür nicht. "Mein Mann und ich haben immer gesagt, wenn ich mal zu viel Milch haben sollte, dann würden wir den kleinen Kindern und den Mamas gerne was zurückgeben", so Lindl. "Um den Frauen einfach den Druck zu nehmen, dass alles gleich funktionieren muss."
Einen Herzenswunsch hat Annette Lindl jetzt noch: "Dass wir Charlotte irgendwann mit heimnehmen können."
Charlottes Mutter Annette hatte zunächst nicht genügend Milch. Mittlerweile ist das anders und sie spendet für die Milchbank.
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