31.12.2022, Berlin: Polizeibeamte stehen hinter explodierendem Feuerwerk. Nach Angriffen auf Einsatzkräfte in der Silvesternacht hat die Diskussion um Konsequenzen begonnen.
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Berlin

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Experte über Silvestergewalt: Mob sucht "Machtspiel" mit Polizei

Ursachenforschung zu den heftigen Angriffen auf Einsatzkräfte in der Silvesternacht: Für den Zürcher Kriminologen Baier sind für diese Art Gewalt auch nicht-integrierte Milieus verantwortlich - die eine Art "Machtspiel" mit der Staatsgewalt suchen.

Über dieses Thema berichtete radioWelt am .

Es war eine Silvesternacht in Berlin, die alles andere als fröhlich war und die noch lange Nachwirkungen haben wird. Mehrere Häuser, Autos und ein Reisebus gerieten in Brand. Die Feuerwehr wiederum wurde bei den Löschversuchen gezielt mit Böllern beschossen, also am Löschen gehindert. Feuerwehrleute wurden verletzt, auch Polizeibeamte wurden tätlich angegriffen.

Uwe Pagels hat in der Bayern 2-Radiowelt mit Professor Dirk Baier gesprochen. Er leitet das Institut für Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Frage: Angriffe auf Rettungskräfte, zum Beispiel auf der Autobahn, die gibt es ja schon etwas länger. Aber hat Sie das Ausmaß in Berlin in der Silvesternacht nicht doch erschreckt?

Antwort: Ja. Dadurch, dass jetzt zwei Jahre Ruhe war dank Corona, hat man sich darauf vorbereiten müssen, dass jetzt alles nachgeholt wird, was man in den Jahren nicht machen konnte zu Silvester. Von daher war es erwartbar, dass es auch wieder zu Gewalt kommt, zu Hinterhalt-Situationen. Aber ich finde, die Dimension ist schon überraschend. Und dass Rettungswagen angegriffen wurden mit verletzten Personen drin, das ist wirklich nicht haltbar, was da passiert.

Warum werden Einsatzkräfte angegriffen? Die wollen doch helfen ...

In der Vergangenheit hat man das auch schon gegen Polizisten gesehen. Die sind in manchen Milieus, in desintegrierten Milieus, auch in migrantisch geprägten Milieus zum Teil - darüber müssen wir durchaus sprechen - zum Hassobjekt geworden. Auch zum Freiwild: Polizisten kann man angreifen, Rettungskräfte, Feuerwehren auch. Das ist teilweise wie ein Machtspiel, das gespielt wird: Man kann zeigen, dass man selbst die Feuerwehr aufhalten kann mit einer kollektiven Aktion. Das bringt so ein bisschen Selbstwirksamkeits-Erlebnisse als Gruppe: Wir können etwas erreichen, können verhindern, dass Brände gelöscht werden. Es ist absurd. Wir können es nicht wirklich verstehen. Aber diese Gefühle sind bei den wenigen, die das machen, durchaus vorhanden.

98 Festnahmen in Berlin - offenbar nur fünf Frauen waren darunter. Ist es also ein männliches Problem?

Das ist definitiv ein männliches Problem, also Gewalt grundsätzlich, das wissen wir, das ist auch biologisch so. Gerade diese kollektiven Formen der Auseinandersetzung mit staatlichen Autoritäten sind ganz klar männlich geprägt. Und auch die fünf Frauen, die jetzt scheinbar irgendwie dabei gewesen sind, waren wahrscheinlich eher so Mitläuferinnen und nicht die, die vorne herangegangen sind, die die Böller geworfen haben, die teilweise auch wahrscheinlich Steine geworfen haben. Das ist typisch männlich.

Wenn Feuerwehr, Sanitäter und vielleicht auch THW angegriffen werden: Geschieht das auch deswegen, weil sie irgendwie den Staat repräsentieren ähnlich wie die Polizei, oder weil sie eine Autorität darstellen?

Vorgestern sind aus meiner Sicht drei Dinge zusammengekommen. Das erste ist dieser Anlass des kollektiven Ausrasten-Dürfens an Silvester. Das zweite sind diese Milieus insbesondere in Großstädten, wo es wirklich eine Distanz zu staatlichen Autoritäten, eine Feindschaft zu Autoritäten gibt. Und drittens muss man auch dazu sagen: Das Wetter war erstaunlich gut, sodass man sehr viel Zeit auf der Straße verbringen konnte, gemeinsam da was losmachen konnte. Und das erklärt ein klein wenig, wie es dann zu solchen Gewalteruptionen kommen kann. Richtig verstehen wird man es nicht können.

Was für Ratschläge haben Sie denn zur Prävention? Was kann man tun?

Es werden jetzt zwei Präventionsmaßnahmen diskutiert: Erstens das Strafmaß wieder erhöhen, zweitens Böllern verbieten. Das Strafmaß zu erhöhen, das gab es in den letzten Jahren schon zweimal, und man sieht, es hat leider wenig gebracht. Das Böllern zu verbieten, glaube ich, das ist auch nicht die Arbeit an den Ursachen. Wir müssen die Milieus erreichen mit Prävention.

Ich denke, was es jetzt auf alle Fälle erst einmal braucht, ist die schnelle, konsequente Strafverfolgung. Die Täter müssen merken, dass das eine Reaktion auf Seiten des Rechtsstaates nach sich zieht. Und damit zeigt der Rechtsstaat auch seine Zähne. Das ist sehr wichtig. Und die Zukunft der Prävention, die haben nicht die Innenministerien in der Hand. Hier geht es um die Sozialministerien und die Bildungsministerien, die versuchen müssen, die Entstehung dieser Milieus zu verhindern.

Die Polizei in Berlin hat beklagt, dass sie bei ihrem Einsatz einfach nicht das modernste Gerät zur Verfügung hatte. Also muss man sie und vielleicht auch die Feuerwehr - die will ja Kameras haben in ihren Wagen - einfach besser ausrüsten?

Ja. Wir wissen, dass Bodycams beispielsweise auch bei der Polizei jetzt nicht Gewaltentstehung verhindern. Sie helfen am Ende, Gewaltvorfälle aufzuklären. Von daher ist so eine Ausstattung durchaus sinnvoll. Viel wichtiger ist aber, glaube ich, dass genug Personal vorhanden ist, es also genug Polizistinnen und Polizisten gibt, dass man auch in einer gewissen Stärke ausrücken kann. Die Arbeitsbedingungen bei der Polizei sind sicherlich zu überprüfen, Überstunden beispielsweise. Ich glaube, da muss man an die Probleme ran. Einfach nur Technik wird das nicht lösen.

Ist bei solchen Tätergruppen, wie sie sie beschrieben haben, die Hemmschwelle für Gewalt insgesamt gesunken, wenn man das so über die letzten Jahre betrachtet?

Ich bin immer vorsichtig, solche generellen Aussagen zu treffen, "es geht alles den Bach runter", "es wird alles schlimmer". Das ist de facto nicht so. Deutschland wird friedlicher - das zeigen die Zahlen. Aber es gibt tatsächlich so eine Polarisierung der Gesellschaft. Es gibt abgehängte Bevölkerungsteile, für die gelten bestimmte Normen nicht mehr. Und sie sind bereit, eben auch Autoritäten so massiv anzugreifen. Ich glaube, wir müssen genauer hinschauen, über welche Gruppen wir reden. Da gibt es eine gewisse Verrohungstendenz.

Video: Minister Herrmann gegen Böllerverbot

Bayerns Innenminister Herrmann (CSU) hält ein allgemeines Böllerverbot auch nach den Ausschreitungen der Silvesternacht in Berlin nicht für ein geeignetes Mittel, um die Gewalt einzudämmen.
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Bayerns Innenminister Herrmann (CSU)

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