Veronika Egger wächst im oberbayerischen Irschenberg auf. Ihre Kindheit ist unbeschwert, zumindest in den ersten Jahren. Sie ist stolz auf ihren Vater, den beliebten Priester Josef Graml. An seinen freien Tagen besucht er sie. Ein fast normales Familienleben.
Mit sieben Jahren kommt Veronika in die Grundschule. Sie freut sich auf den Unterricht, lernt gern. Besonders den Religionsunterricht mag sie gern, sagt Veronika Egger: "Soweit ich mich erinnern kann, habe ich im Religionsunterricht immer wieder aufgezeigt und gesagt: 'Ich kann euch schon erklären, wie dieses und jenes funktioniert, weil mein Papa ist ja Pfarrer. Ich habe da das nötige Hintergrundwissen.'"
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In der Schule erfährt Veronika Egger zum ersten Mal: Mit ihrer Familie "stimmt etwas nicht"
Doch dann bittet der Schuldirektor Veronikas Mutter zu einem Gespräch, erzählt Veronika Egger: „Der Schuldirektor hat zu meiner Mama einfach gesagt, ich dürfe darüber nicht mehr sprechen, dass der Papa Pfarrer ist. Und das war eigentlich der erste Moment, der Schlüsselmoment für mich, diese Erkenntnis: Das ist nicht nur etwas Besonderes, dass mein Papa Pfarrer ist, sondern das ist etwas Verbotenes. Und ich darf nicht mehr darüber reden. Also: ab sofort Schweigepflicht.“
Einige Dorfbewohner nennen Veronikas Mutter eine "Priesterhure". Vereine im Dorf verweigern Veronika die Aufnahme. Nur wenige halten damals zu ihnen. Veronika Eggers Mutter hegte lange den Wunsch, dass sich der Vater ihrer Tochter für die Familie entscheidet. Aber er lässt sich nicht darauf ein und bleibt als Priester im Amt.
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Für die Kirche trägt Veronika Eggers Mutter die Schuld
Veronika Egger erzählt, wie die Kirche mit ihrer Mutter damals umgegangen ist: "Im Ordinariat gab es eine Vorladung, und da wurde ihr gesagt, dass mein Vater keine Karrierechancen mehr hat durch diesen Fehltritt. 'Schuld daran sind Sie, Frau Egger.' Und das bekommt man ja als Kind mit, wie oft sie weint, wie oft sie von der Außenwelt gespiegelt bekommt, dass sie an allem schuld ist. Und dann versucht man als Kind schon, das Leid mitzutragen. Ich habe da noch so ein Bild vor Augen, dass ich ihr dann etwas, was ich gebastelt oder gemalt habe, geschenkt habe, damit sie sich an etwas freuen kann. Damit sie nicht wieder weint.“
Veronikas Mutter muss den Alltag mit ihrer Tochter weitgehend allein bewältigen. Auch finanziell. Sie arbeitet als Putzhilfe, kommt kaum über die Runden. Der Vater übernimmt gelegentlich den Einkauf, zahlt aber keinen Unterhalt. Besuche sagt er oft kurzfristig ab.
Veronika Egger wird krank
Veronika Egger plagen mit der Zeit immer mehr Ängste und Schuldgefühle: "Es liegt an mir, wenn Mama und Papa sich streiten, weil jemand gesehen hat, dass ich meinem Vater zu nahegekommen bin, und Mama sich daraufhin über seine ständigen Fluchtreaktionen ärgert. Und es liegt an mir, wenn Mama wieder zum Direktor muss, weil andere sich über mich beklagen. Ich kann also alles verschulden, unsere kleine Familie in den Abgrund reißen, und diese Verantwortung, die setzt mir zu, schnürt mir die Kehle zu und macht mich richtig krank.“
Später wird Josef Graml in eine andere Gemeinde versetzt – strafversetzt, wie Veronika Egger berichtet.
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Die Tochter soll unsichtbar bleiben
Heute möchte sich im Erzbistum München und Freising niemand mehr zu dem konkreten Fall äußern. Die Pressestelle weist auf die generelle Linie hin, "dass ein Priester, der Vater wurde, aufgerufen ist, so gut es möglich ist, seine Vaterrolle anzunehmen und auch den finanziellen Pflichten nachzukommen".
Josef Graml fängt nach seiner Versetzung neu an, in Ebersberg, 40 Kilometer entfernt von Veronika und ihrer Mutter. Er arbeitet als Krankenhausseelsorger – für ihn ein beruflicher Abstieg. Wenn seine Familie zu Besuch kommt, versteckt er sie in seiner Wohnung. Sie sollen nicht offiziell auftauchen in seiner neuen Welt.
2019 stirbt ihr Vater Josef, mit 79 Jahren. Er wird in Ebersberg beerdigt, wo er zuletzt gearbeitet hat.
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Erst nach Gramls Tod darf Veronika offiziell seine Tochter sein
Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Doch bei der Beerdigung von Josef Graml gibt es noch eine Überraschung für Veronika Egger. Sie erzählt, dass sie immer vor Augen hatte, bei seiner Beerdigung entweder gar nicht dabei zu sein oder ganz hinten zu stehen.
Doch es kam anders: "Ich wäre fast nicht mehr in das Kirchenschiff reingelangt, weil so viele Leute da waren. Und für mich wurde ganz vorne in einer ersten Bankreihe ein Platz freigehalten. Und das kann ich gar nicht beschreiben, was das für ein Gefühl war. Der Pfarrer hat dann in seiner Ansprache gesagt: Er möchte auch die Tochter vom Pfarrer Graml in der Gemeinde willkommen heißen. Und das hat mich dann schon sehr gerührt. Ich bin eigentlich keine, die nahe am Wasser gebaut hat. Aber ich habe geweint. Ich bin hier gestanden und es war eine ewig lange Reihe an Menschen, die mir ihr Beileid ausgesprochen haben. Es war nicht nur der Abschied von meinem Vater, sondern auch von der Zeit des Lügens und Versteckens. Plötzlich war ich offiziell die Tochter."
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