Kreuz in einer katholischen Kirche
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Die katholische Kirche befindet sich in einem Dilemma: Soll sie die Verjährung von Missbrauchsfällen vor Gericht geltend machen oder nicht?

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Die katholische Kirche im Dilemma: Image oder Geld?

Die katholische Kirche befindet sich in einem moralischen, rechtlichen und finanziellen Dilemma: Soll sie die Verjährung von Missbrauchsfällen vor Gericht geltend machen oder es auf hohe Schadensersatzzahlungen ankommen lassen?

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Zwei Zivilrechtsklagen von Missbrauchsopfern stellen die katholische Kirche vor ein Dilemma: Soll sie auf Verjährung pochen und damit die Betroffenen vor den Kopf stoßen – oder hohe Entschädigungszahlungen riskieren? Heute muss sich das Erzbistum München und Freising entscheiden.

Erzbistum Köln pocht nicht auf Verjährung

Der Kölner Erzbischof, Kardinal Woelki, hat in einem vergleichbaren Verfahren vor dem Landgericht Köln nicht auf Verjährung gepocht und damit die Aufklärung vorangetrieben, obwohl der Kläger rund 800.000 Euro Schmerzensgeld fordert. Hohe Kirchenverantwortliche im Erzbistum Köln hatten den Täter in den 70er Jahren gedeckt und immer wieder in der Seelsorge eingesetzt.

Für die 69-jährige Agnes Wich aus München, die selbst als Kind von einem Priester missbraucht wurde, ist Woelkis Verzicht auf die so genannte Verjährungseinrede, wie es auf Juristendeutsch heißt, die einzig denkbare Entscheidung. "In Köln gibt es keine andere Chance als dieses Verfahren zuzulassen", sagt Wich, "weil die Gläubigen nur noch mit einer geballten Wut durch die Gegend laufen und nicht mehr akzeptieren würden, wenn Betroffene in irgendeiner Form benachteiligt werden."

Betroffene hören, ihr Leid anerkennen und bedingungslos aufklären – das hatte sich die katholische Kirche in den letzten Jahren immer wieder auf die Fahnen geschrieben. Erst in der vergangenen Woche hat das Erzbistum München und Freising Bilanz gezogen, ein Jahr nach dem von Erzbischof Marx in Auftrag gegebenen Missbrauchsgutachten. Er betonte erneut, man wolle alles tun für Betroffene.

Das alles schiene wenig glaubwürdig, sollte die Kirche nun vor einem weltlichen Gericht die Verjährung geltend machen. "Berufen sie sich auf die rechtlich zulässige Verjährung - also darauf, dass kein Rechtsgrund mehr besteht, die Ansprüche zu zahlen, stehen sie als moralische Verlierer da", sagt Thomas Schüller, Professor für Kirchenrecht an der Universität Münster. "Die Kirche ließe den Opfern sexualisierter Gewalt, denen es ein Leben lang miserabel geht, keine Gerechtigkeit widerfahren."

Aus dem Protokoll spricht auch die Sorge ums Geld

Auch vor dem Landgericht Traunstein will ein 38-Jähriger Mann mit einer Feststellungsklage gerichtlich klären lassen, inwieweit das Erzbistum und seine früheren Erzbischöfe haftbar gemacht werden können für Fehlverhalten bei Missbrauchsfällen. Besonders pikant – einer der Beklagten ist der verstorbene Joseph Ratzinger beziehungsweise sein Rechtsnachfolger. Wie sehr diese und die ähnlich gelagerte Kölner Klage die deutschen Bischöfe und ihre Rechtsberater derzeit umtreiben, das zeigt ein Sitzungsprotokoll der Rechtskommission der deutschen Bischofskonferenz, das dem BR und Correctiv vorliegt. Darin werden einige Bistumsjustitiare zitiert, die bereits Ende September letzten Jahres ausführlich über die beiden Klagen diskutierten. Was, wenn weitere Betroffene auch in anderen Bistümern klagen – so eine Befürchtung. Empfiehlt es sich deshalb, generell die Verjährung geltend zu machen? Nicht alle Bistumsjuristen sind, dem Protokoll zufolge, dieser Meinung. Da wird auf die „potentiellen Austritte und möglichen Reputationschäden“ hingewiesen, zu denen es kommen könnte. Die „mediale Wirkung“ sei zu bedenken – und die „Fürsorgepflicht für die Betroffenen“.

Trotzdem gibt es auch die Sorge ums Geld. "Auf die Diözesen könnten bei einer Vielzahl zu berücksichtigender Fälle unter Umständen erhebliche haushaltsrelevante Zahlungen (teilweise in Millionenhöhe) zukommen", wird der Essener Bistumsjustitiar zitiert. Der Kirchenrechtler Thomas Schüller hält diese Sorge für realistisch. Die Missbrauchsgutachten der Bistümer hätten inzwischen viele Fälle mit einem Organisationsverschulden dokumentiert, bei denen Kirchenverantwortliche Täter gedeckt und einfach nur versetzt hätten. So geschehen in den beiden Fällen, die vor den Landgerichten Traunstein und Köln verhandelt werden.

Aufgrund der gravierenden, oft lebenslangen Folgen des Missbrauchs für die Betroffenen seien Gerichte inzwischen bereit, ihnen hohe Entschädigungssummen zuzusprechen. Für einige Bistümer könnte das auch zur Pleite führen, so Schüller: "Wenn es um zehn, fünfzehn, zwanzig Fälle dieser Art geht, mit einem Volumen von 600.000 Euro, wie es in Köln jetzt ansteht, dann können kleinere Diözesen, die nicht so große Rücklagen haben, wie die großen Diözesen, schnell in eine Schieflage kommen." Diese zeige sich bereits in Frankreich. "Die Kirche dort ist deutlich ärmer und muss nun Immobilien verkaufen, um die Schadensersatzleistungen zu tragen", sagt Schüller.

Verjährung: moralische, rechtliche und finanzielle Frage

Die Summen wären um ein Vielfaches höher als die Anerkennungsleistungen zwischen 5.000 Euro und 50.000 Euro, welche die Bistümer bisher freiwillig an Missbrauchsbetroffene zahlen. Trotzdem halten viele Gläubige hohe Zahlungen für notwendig, damit die Kirche wieder an Glaubwürdigkeit gewinne, meint Kirchenrechtler Thomas Schüller. "Was im Moment über die Entschädigungszahlungen freiwillig läuft, ist für die meisten Diözesen aus der Portokasse zu bezahlen. Das tut nicht weh, das kann man aus dem laufenden Vermögen bezahlen." Gerichtlich erstrittene Schadensersatzzahlungen dagegen würden auch die Kirche spüren lassen, dass alles seinen Preis habe. "Die Opfer haben das gute Recht, für die starken Beeinträchtigungen ihres Lebens eine Summe zu bekommen, die dann auch das kirchliche Leben beeinträchtigt", sagt Schüller.

Ob die deutschen Bistümer die Verjährung vor Gericht geltend machen oder nicht, ist also nicht nur eine moralische und rechtliche, sondern auch eine wirtschaftliche Frage, bei der sich die Kirche in der Zwickmühle fühlt. Denn wenn Bistümer künftig Vermögen veräußern, um Entschädigungen zu zahlen, könnten sie sich der Veruntreuung strafbar machen.

Grund ist die so genannte Vermögensbetreuungspflicht, erklärt Thomas Schüller: "Alle, die das Vermögen der Kirche verwalten, müssen Schaden vom Vermögen abwenden. Sie dürfen Vermögen nur veräußern, wenn es einen Rechtsgrund gibt. Und den gibt es ja nicht, wenn die Verjährung eingetreten ist. Wie es die Kirche auch macht, befindet sie sich in einem Dilemma."

Finanzkommission: nicht auf Verjährung verzichten

Deshalb verwundert es nicht, dass die Finanzkommission der Bischofskonferenz den Bistümern laut einem weiteren kircheninternen Dokument, das dem BR und Correctiv vorliegt, empfohlen hat, "nicht auf die Einrede der Verjährung bei Klagen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch zu verzichten". Diese Linie vertreten auch einige bayerische Bistumsjustitiare, wie aus dem Sitzungsprotokoll der Rechtskommission der Deutschen Bischofskonferenz deutlich wird.

Bei der Verjährungseinrede handele es sich um eine "unternehmerische Entscheidung", wird der Justitiar der Diözese Würzburg zitiert. "Er habe Bischof Jung von der Einrede der Verjährung abgeraten", heißt es. "In einzelnen Fällen könnte man nach dem Gerichtsverfahren, in dem die Einrede erhoben wird, eine privatwirtschaftliche Vereinbarung treffen." Auch das Bistum Eichstätt "sieht eine erhebliche Gefahr, würde auf die Einrede der Verjährung verzichtet".

Fraglich bleibt, ob sich das Erzbistum München vor dem Landgericht Traunstein auf die Verjährung berufen wird. In dem genannten Protokoll von der Sitzung der Bistumsjuristen Ende September 2022 wird ein Rechtsvertreter des Erzbistums München und Freising mit der Anmerkung zitiert, "auch externe Rechtsanwälte würden davon abraten, die Einrede nicht zu erheben". In der vergangenen Woche hatte das Erzbistum mitgeteilt, in der Sache noch nicht entschieden zu haben.

Kirchenrechtler Thomas Schüller räumt dem Traunsteiner Kläger gute Chancen ein. Denn einer der früheren Erzbischöfe, Kardinal Friedrich Wetter, habe eingestanden, den seelsorglichen Einsatz des Täters verantwortet zu haben, mit dem Wissen um dessen Straftaten. "Man wird gespannt sein, ob das Erzbistum München und Freising jetzt tatsächlich Verjährungseinrede vornimmt oder nicht", so Schüller. Offiziell wollte das Erzbistum sich dazu bis jetzt nicht äußern. Heute läuft die Frist für die Klageerwiderung vor dem Landgericht Traunstein ab.

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