Wie kein zweites Großprojekt in Deutschland gilt der Berliner Flughafen (BER) als Sinnbild für Planungschaos, ausufernde Kosten und Bau-Verzögerungen. Nach der Veröffentlichung neuer Berechnungen zu Kosten und Bauzeit der 2. Münchner S-Bahn-Stammstrecke ziehen der Fahrgastverband Pro Bahn und mehrere Spitzenpolitiker nun Vergleiche zwischen beiden Großprojekten.
Denn mit möglichen Kosten von bis zu 7,2 statt 3,8 Milliarden Euro könnte der neue S-Bahn-Tunnel sogar teurer werden als der BER. Zudem könnte sich die Fertigstellung des Münchner Großprojekts noch einmal um bis zu neun Jahre verzögern (bis 2037). Diese Zahlen nannte der bayerische Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) am Donnerstagvormittag unter Berufung auf Berechnungen des Freistaats und forderte die Deutsche Bahn auf, "sowohl ihre Kostenschätzung als auch ihren Zeitplan" offenzulegen.
Die Bahn hüllt sich vorerst aber in Schweigen. Die Zeit- und Kostenpläne des Projekts würden aktuell überprüft, teilt eine Sprecherin auf BR24-Anfrage mit. "Da diese Überprüfung noch nicht abgeschlossen ist, äußern wir uns zur aktuellen Berichterstattung nicht."
Pro Bahn: Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht
Andreas Barth vom Fahrgastverband Pro Bahn betonte, in den vergangenen beiden Jahrzehnten hätten sich die Kosten der 2. Stammstrecke mehrfach erhöht und die Bauzeit immer wieder verlängert. Man müsse daher klar die Befürchtung haben, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht sei. "Das ist halt der bayerische BER."
Die bayerische Landespolitik habe sich in den Kopf gesetzt, den Tunnel unbedingt zu bauen - sie "hat auf Kritik nicht gehört, hat auf Probleme nicht gehört", sagte Barth. Bisher habe die Staatsregierung alle Maßnahmen im S-Bahn-Netz vom zweiten Stammstrecken-Tunnel abhängig gemacht, "da müssen wir endlich mal wegkommen". Nötig sei jetzt ein Ausbau der Außenstrecken und ein Regionalzug-Halt an der Poccistraße in München.
Reiter: Dringend Entlastung nötig
Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) teilte mit, sollten sich die vom bayerischen Verkehrsministerium genannten Zahlen bewahrheiten, "wäre dies für die Münchnerinnen und Münchner und die Menschen in der Region eine inakzeptable Entwicklung". Er hoffe sehr, dass Bund, Freistaat Bayern und Deutsche Bahn als Träger des Projekts "alles daran setzen, dass das größte Infrastrukturprojekt Deutschlands kein zweiter Berliner Flughafen (BER) wird". Das Münchner S-Bahnsystem stoße jetzt schon an seine Grenzen und brauche dringend Entlastung durch die zweite Stammstrecke.
Pretzl: "Katastrophe für unsere Stadt"
Der bayerische SPD-Fraktionschef Florian von Brunn beklagte, die Deutsche Bahn sei unter den CSU-Bundesverkehrsministern vernachlässigt worden. Im Interesse der vielen Hunderttausend S-Bahn-Fahrgäste müsse die zweite Stammstrecke "so schnell wie möglich" gebaut werden. "Der Ball liegt jetzt bei FDP-Verkehrsminister Wissing. Ich gehe fest davon aus, dass er das notwendige Geld bereitstellt und für einen schnelleren Bau sorgt – im Interesse der Menschen."
"Entsetzt" über die neuen Zahlen zeigte sich der Vorsitzende der Münchner CSU-FW-Stadtratsfraktion, Manuel Pretzl. "Eine Verdopplung der Kosten und eine Verzögerung um neun Jahre wären eine Katastrophe für unsere Stadt." Wenn der Tunnel auf absehbare Zeit wegbreche, wackele die gesamte Verkehrsplanung der nächsten Jahre. Die Fraktionsvorsitzende von Grünen und Rosa Liste im Stadtrat, Mona Fuchs, hält die im Raum stehenden immensen Verzögerungen für eine "Zumutung" für die S-Bahn-Fahrgäste.
Bernreiter: "Herr Wissing kneift"
Eigentlich war für Donnerstag seit vielen Wochen ein Gipfel mit Vertretern von Bund, Bahn, Freistaat und Stadt zur Stammstrecke angesetzt, platzte aber kurzfristig. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) habe das Treffen am Vorabend ohne Angabe von Gründen abgesagt, kritisierte der bayerische Ressortchef Bernreiter. Das sei ein sehr schlechter Stil. "Ich halte fest: Herr Wissing kneift." OB Reiter bezeichnete die Absage als "extrem enttäuschend".

Bayerns Verkehrsminister Bernreiter (CSU)
Bundesministerium kontert: Freistaat zuständig
Laut einer Sprecherin des Bundesverkehrsministeriums wurde das Treffen "aus Termingründen abgesagt". Sie betonte auf BR-Anfrage, dass der Bund bei der zweiten S-Bahn-Stammstrecke kein Projektbeteiligter sei. Zuständig seien der Freistaat Bayern und die DB Netz AG.
"Die Verantwortung für die Sicherstellung der Gesamtfinanzierung des Vorhabens liegt nach einer Erklärung vom 20. Dezember 2016 beim Freistaat Bayern." Dem Bundesministerium lägen bislang keine offiziellen und belastbaren Informationen zu Kostensteigerungen und Zeitverzug vor.
FDP sieht Bayern in der Pflicht
Der bayerische FDP-Fraktionschef Martin Hagen fühlt sich ebenfalls an den Berliner Flughafen erinnert - und sieht die Staatsregierung in der Pflicht. "Erinnert an BER - ein Desaster für den Auftraggeber Bayern!", twitterte er. Seine Fraktion werde im Verkehrsausschuss einen Bericht der Staatsregierung einfordern.
Der FDP-Verkehrsexperte Sebastian Körber betonte: "Die CSU-Staatsverkehrsminister namentlich Joachim Herrmann, Ilse Aigner, Hans Reichhart, Kerstin Schreyer und Christian Bernreiter haben uns in diese Lage manövriert." So sei 2017 mit dem Bau begonnen worden, obwohl noch nicht einmal die Projektplanungen abgeschlossen gewesen seien. Zudem seien umfangreiche Änderungen veranlasst worden, die das Projekt weit zurückgeworfen hätten. Statt mit dem Finger nach Berlin zu zeigen, "sollte die bayerische Staatsregierung sich ihrer Verantwortung auf Landesebene endlich bewusst werden".

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