Noch immer wirkt die Erinnerung an die schlimmsten Stunden in seinem Leben ganz frisch. Helmut Wuttke weiß nach wie vor die vielen kleinen Details, die Namen seiner Kameraden auf dem Kreuzfahrtschiff "Wilhelm Gustloff" und seinen dramatischen Überlebenskampf an jenem 30. Januar 1945. "Ich habe mich gewundert, wie ich das in der Eiseskälte überhaupt ausgehalten hab", sagt der 99-Jährige: "Ich hatte ja nur Halbschuhe, Hose und ein Hemd an".
Die schlimmen Erlebnisse auf der "Gustloff" hat er verarbeitet, wie er sagt. Aber jedes Jahr am 30. Januar sind sie dann doch wieder da: die Gedanken an die Tragödie in der Ostsee und das Wunder seines Überlebens.
Überfüllte "Gustloff"
Helmut Wuttke stammt aus Strehlen in Schlesien und kommt 1941 zur Marine. Er gehört zunächst zur Besatzung des U-Boots U80. 1945 sollte ihn die "Gustloff" nach Kiel bringen. "Im Hafen haben dann unzählige Menschen auf das Schiff gedrängt, die konnte man gar nicht alle registrieren. Sie glaubten, die 'Gustloff' wäre ihre Rettung." In Ostpreußen flohen zu dieser Zeit unzählige Menschen vor der Roten Armee. Die Front hatte sich immer weiter Richtung Westen verschoben. Verzweifelt versuchten vor allem Frauen mit ihren Kindern, auf die "Gustloff" zu kommen.
Es waren wohl am Ende um die 10.300 Menschen an Bord des hoffnungslos überfüllten Kreuzfahrtschiffs. Offiziell waren knapp 8.000 Personen registriert. Am 30. Januar 1945, ein Dienstag, gegen 17 Uhr verlässt das Schiff schließlich Gotenhafen, das heutige Gdyna in Polen, westlich von Danzig.
Vermeintliches Rettungsschiff wird zur Todesfalle
"Ich hatte bis 21 Uhr Wachdienst im vorderen Speisesaal", erinnert sich Helmut Wuttke. Danach will er zu seiner Kabine gehen, wird aber von einem Kameraden aufgehalten und lässt sich noch ein Butterbrot geben. Die "Gustloff" läuft zu diesem Zeitpunkt etwa 23 Seemeilen vor der Küste Ostpommerns, abgeblendet mit Geleitschutz - wenn auch nur mit einem kleinen Torpedoboot. Außerdem hatte das Schiff damals einen Tarnanstrich.
Um 21.16 Uhr nimmt Kapitän Alexander Marinesko an Bord des russischen U-Boots S-13 die "Wilhelm Gustloff" ins Fadenkreuz seines Periskops. Er geht davon aus, es handele sich um ein Kriegsschiff. Marinesko lässt vier Torpedos abfeuern. Drei davon treffen das ehemalige Nazi-Kreuzfahrtschiff. "Ich hatte grade die Türklinke in der Hand, da gab es einen großen Knall. Gleich drauf noch einen und dann noch einen", weiß Helmut Wuttke. "Der erste Torpedo hat im Vorderschiff eingeschlagen, dort waren im Schwimmbad Marinehelferinnen untergebracht." Einer seiner Kameraden will helfen. "Der wollte dort zu einer Freundin. Wir haben ihm gesagt, 'Du bist doch wahnsinnig', die erschießen sich schon gegenseitig, das Boot sinkt", weiß Helmut Wuttke. Diesen Kameraden hat er nie wiedergesehen.
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Helmut Wuttke bei der Kriegsmarine.
Panik an Bord
Als die "Gustloff" auf der Ostsee torpediert wird, hat es minus 18 Grad Lufttemperatur, das Wasser hat vielleicht zwei Grad. An Bord bricht Panik aus. Viele Menschen werden auf den Gängen zu Tode getrampelt, es entbrennt ein Kampf um die Rettungsboote. Von denen gibt es zu wenig, sie sind vereist und können nicht ins Wasser gelassen werden: "Da habe ich noch gesehen, wie bei einem der Boote eine Kette gerissen ist. Die Menschen sind rausgekippt und ins Wasser gefallen. Die meisten sind nimmer rausgekommen."
Die Schilderungen von Helmut Wuttke sind dramatisch. Wie muss es erst an Bord gewesen sein? "Die Schreie, das kann man nicht vergessen. Da waren Menschen unter Deck eingeschlossen, hinter Panzerglas." Sätze, die den Zuhörer schaudern lassen.
Helmut Wuttke heute - der 99-Jährige lebt in Deggendorf.
Überlebenskampf im Eiswasser
Nach den Torpedotreffern bleibt den Menschen auf der "Gustloff" wenig Zeit. Das Schiff hat rasch Schlagseite, sinkt binnen einer Stunde. Als erfahrener U-Boot-Matrose bleibt Helmut Wuttke einigermaßen ruhig. "Mit einem Kameraden habe ich noch eine Zigarette geraucht", sagt er. Schließlich rutscht auch Helmut Wuttke ins Eiswasser. "Da bin ich in der Dunkelheit auf einem kleinen Rettungsfloß gelandet", erinnert er sich bewegt. Dann erkennt er eine Zille, schafft es, sich an Bord zu ziehen. Vollkommen durchnässt und unterkühlt.
"Ich habe noch versucht, eine Frau aus dem Wasser zu ziehen. Aber die hatte einen Rettungsring dran und wohl einen dicken Mantel an. Sie hatte keine Kraft mehr und ich auch nicht mehr. Ich musste sie dann loslassen, ich konnte nicht mehr." Helmut Wuttke, Überlebender der Wilhelm Gustloff
Als er das sagt, bricht seine Stimme. "Plötzlich habe ich dann noch ein kleines Mädchen erwischt, die war vielleicht vier Jahre alt. Das konnte ich leicht an Bord ziehen." Später erfährt Helmut Wuttke, dass das Mädchen mit ansehen musste, wie ihre ganze Familie in den Fluten der Ostsee unterging. Für Helmut Wuttke dagegen naht die Rettung.
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Plötzlich war alles hell
An Bord des kleinen Rettungsbootes geht für Helmut Wuttke der Überlebenskampf weiter. "Uns hatte man immer gesagt, wenn ein großes Schiff untergeht, gibt es einen gewaltigen Sog, der alles nach unten zieht. Aber als die "Gustloff" sank, gab es keinen Sog." Dafür eine Szene, die einen beim Zuhören schaudern lässt. "Plötzlich war das Schiff hell erleuchtet und aus den Lautsprechern kam Musik. Als würde man in einen Hafen einlaufen", erinnert sich Helmut Wuttke. Durch das Seewasser im Schiff war die Notstromversorgung angesprungen, es gab Kurzschlüsse.
Rettung ein Wunder
Während die "Gustloff" sinkt, gelingt es der Besatzung an Bord, ein Notsignal abzusetzen. Schließlich kommt das deutsche Torpedoboot "T-36" zur Unglücksstelle und versucht, so viele Menschen wie möglich aus dem Wasser zu ziehen. Für die meisten kommt jede Hilfe zu spät, sie ertrinken oder erfrieren im nur zwei Grad kalten Wasser der Ostsee.
Helmut Wuttke dagegen kann ein Tau, das von dem Torpedoboot herabgelassen wird, um seinen Körper schlingen und sich schließlich mit allerletzter Kraft an Bord ziehen. Dort wärmt sich Helmut Wuttke am Schiffsdiesel. Die Gefahr ist trotzdem nicht gebannt. Auch "T-36" wird vom russischen U-Boot ins Visier genommen, Torpedos werden abgefeuert. Aber der deutsche Kapitän kann ausweichen. "Es wurden auch Wasserbomben geworfen. Das waren gewaltige Explosionen und eine unglaubliche Wucht. Das hatte man vorher noch nie erlebt", weiß Helmut Wuttke. Schließlich kommt er zusammen mit mehr als 500 Überlebenden an Bord in den Hafen von Saßnitz.
Neues Leben in Niederbayern
Nach seiner Rettung von der "Gustloff" bleibt Helmut Wuttke zwar noch bei der Kriegsmarine, muss aber nicht mehr an die Front. Und nach dem Krieg findet er sogar seine Eltern wieder. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes erfährt der damals 22-Jährige, dass die sich aus Schlesien ins niederbayerische Deggendorf gerettet hatten. 1946 trifft er sie und seine beiden Schwestern dort wieder.
Helmut Wuttke bleibt schließlich in Deggendorf, findet in seinem gelernten Beruf als Dreher Arbeit bei der Werft und gründet eine Familie. "Immer wieder zur rechten Zeit ist jemand da gewesen, sodass ich beschützt worden bin. Ja, der Herrgott hat's gut gemeint mit mir", ist Helmut Wuttke dankbar. Bald feiert er seinen 100. Geburtstag, bei bester Gesundheit, abgesehen von einem Augenleiden. Geboren wurde er 1923 am 7.7. um sieben Uhr - als Glückskind.
💡 Die "Wilhelm Gustloff"
Die "Wilhelm Gustloff" sollte als Kreuzfahrtschiff der Nazi-Organisation "Kraft durch Freude" dienen. Gebaut bei der Hamburger Werft "Blohm & Voss" lief es dort am 5. Mai 1937 vom Stapel und lief am 15. März 1938 zur Jungfernfahrt aus. Das Schiff war 208,5 Meter lang, 23,5 Meter breit und hatte sieben Meter Tiefgang - das damals weltweit größte Kreuzfahrtschiff. Der Bau der "Wilhelm Gustloff" kostete etwa 25 Millionen Reichsmark. Auf dem Schiff war Platz für fast 1.500 Passagiere und rund 420 Besatzungsmitglieder. An Bord war eine große "Führerlounge", die aber nie genutzt wurde, Hitler war nie auf der "Wilhelm Gustloff". Beim Bau wurde für das Schiff offenbar bereits ein Kriegseinsatz vorgesehen, so waren an Bord schwere Kanonen stationiert.
Ursprünglich war geplant, den Ozeanriesen auf "Adolf Hitler" zu taufen, schließlich entschieden sich die Nazis aber für den Namen "Wilhelm Gustloff". Gustloff war überzeugter Nationalsozialist, der unter anderem versuchte, in der Schweiz Nazi-Organisationen zu gründen. Gustloff wurde 1936 von einem jüdischen Studenten erschossen und anschließend von den Nazis zu einem "Märtyrer" stilisiert.
Der Untergang der "Wilhelm Gustloff" gilt als die schlimmste Schiffskatastrophe der Geschichte. Rund 9.000 Menschen verlieren am 30. Januar 1945 ihr Leben. Das Wrack der "Wilhelm Gustloff" liegt in 42 Meter Tiefe in polnischen Gewässern. Die Untergangsstelle ist ein als Seekriegsgrab geschütztes Denkmal.

Am 30.01.1945 wurde die mit Menschen völlig überbesetzte "Wilhelm Gustloff" torpediert und versenkt. Tausende ertranken in der eisigen See.
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