Hanns Steinhorst, 82 Jahre alt, und Ibo Mohamed, 24 Jahre alt, sitzen sich in einem kleinen Raum gegenüber. Er ist hell erleuchtet, mit Kunst und Pflanzen dekoriert, bequeme Sofas stehen in der Mitte des Raumes, in dem die beiden Männer vom BR zu ihren Fluchterfahrungen interviewt werden. Hanns und Ibo sehen sich an, schweigend und lächelnd. Es ist das erste Mal, dass sie sich treffen – noch vor wenigen Sekunden haben sie sich das erste Mal die Hand geschüttelt. Und trotzdem teilen sie eine Erfahrung, die ihr Leben geprägt hat. Sie mussten als Minderjährige – der eine als Kind, der andere als Jugendlicher – aus ihrer Heimat flüchten.
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Zu Fuß durch Tschechien bis an die Donau
Hanns Steinhorst war vier Jahre alt, als es passierte. Es war das Jahr 1945. "Ich war mit meiner Schwester im Wald beim Blaubeeren sammeln und plötzlich kam Fliegeralarm", erzählt Steinhorst. Damals bombardierten die Amerikaner das Gebiet in Oberschlesien, das heute im Osten Tschechiens liegt. Deshalb musste er mit seiner Mutter und seiner Schwester das Land verlassen. "Wir sind zu Fuß von der tschechischen Grenze durchs Waldviertel bis zur Donau und nach Linz gelaufen", erinnert sich Steinhorst. Der damals Vierjährige wurde auf der Flucht von seiner Mutter getrennt. Er sei ganz alleine mit seiner älteren Schwester unterwegs gewesen. "Ohne meine Schwester hätte ich die Flucht wahrscheinlich nicht überlebt", so der 82-Jährige.
Abschied aus der Heimat hat sich unwirklich angefühlt
Ibo Mohamed lebte bis zum Jahr 2015 mit seiner kurdischen Familie in Syrien. Damals war er 17 Jahre alt. Ihm drohte, in die Armee eingezogen zu werden – deshalb hat seine Familie ein Grundstück verkauft, um seine Flucht zu finanzieren, erzählt er. Eigentlich habe er gemeinsam mit einem Freund fliehen wollen. Dieser sei kurz davor aber abgesprungen, sodass er sich alleine auf den Weg ins Unbekannte machen musste. Als er seine Eltern zum Abschied umarmte, konnte er nicht glauben, was da gerade passierte. "Ich habe die Stadt angeschaut und mich gefragt: Ist das die Wirklichkeit oder bin ich jetzt in einem Traum?"
Die Schlepper verfrachteten den jungen Mann dann in ein Fahrzeug, zusammen mit anderen Flüchtenden. Irgendwo in der Nähe der türkischen Grenze mussten sie aussteigen, zu Fuß den Rest des Weges in die Türkei bewältigen. Er sei dabei mehrfach gestürzt – aber Schmerzen habe er keine mehr gespürt, erinnert er sich. Viel schlimmer sei für ihn gewesen, dass er keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter und auch nichts zum Essen hatte. Auch an das Gefühl von Hilflosigkeit, das er damals hatte, erinnert er sich noch gut. "Ich wusste gar nicht mehr, wo ich bin und wo uns die Schlepper hinbringen", so Mohamed. Immer wieder wurde er von der bulgarischen Grenzpolizei aufgegriffen, die die Flüchtenden geschlagen und ihnen ihr letztes Bargeld weggenommen habe, sagt er.
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Viel ist auf der Strecke geblieben
Letztendlich schafften es beide Männer nach Deutschland – schmutzig, erschöpft, traumatisiert. Aber am Leben. Als die beiden auf den Sofas, Jahre danach, die Ereignisse Revue passieren lassen, stellen sie jedoch fest, wie viel sie auf der Flucht verloren haben.
Für Hanns Steinhorst war das Schrecklichste die Trennung von seiner Mutter. Die Deutschen seien damals zu Tausenden zum Bahnhof getrieben worden, sagt er. In diesem Gemenge sei er von seiner Mutter getrennt worden. Erst zwei Jahre später, als er und seine Schwester schon in Deutschland waren, habe er sie wiedergesehen. "Für mich war es so, als hätte mich meine Mutter verlassen", erzählt er und der Schmerz in seiner Stimme klingt durch. Denn als er sie nach der Flucht in Bamberg wieder getroffen hatte, habe er sie nicht richtig umarmen können. Sie sei wie eine Fremde gewesen.
Auch Ibo Mohamed fiel die Trennung von seinen Eltern schwer – auch er stellt sich manchmal die Frage, wie es wohl wäre, sie wiederzusehen. Auf seiner Flucht habe ihm der Gedanke geholfen, dass seine Eltern an ihn denken würden und sie noch unter demselben Himmel lebten, sagt er.
Glaube an die Menschlichkeit verloren
Auf der anderen Seite hatte Ibo Mohamed den Glauben an die Menschlichkeit verloren, zumindest für einige Monate. Während seiner Flucht habe er kein einziges positives Erlebnis gehabt, erzählt der 24-Jährige. Alle seien mit den Geflüchteten unmenschlich umgegangen und auch mit den anderen Flüchtenden habe er keine guten Erfahrungen gemacht. Als er in Waldkirchen in Niederbayern angekommen sei, habe sich das wieder geändert, erzählt Ibo Mohamed. In Deutschland habe er Hilfe durch seine deutschen Paten bekommen.
Auch der 82-jährige Hanns Steinhorst merkt heute noch manchmal, dass eine Art "Restmisstrauen" gegenüber Menschen geblieben ist. Er wisse seit seiner Flucht, dass Menschen auch zu viel Boshaftigkeit fähig seien, sagt er. Der Rentner hat erst mit 60 Jahren sein Schicksal aufgearbeitet. Steinhorst erzählt, dass sich damals in Deutschland niemand um die Traumata der geflüchteten Kinder gekümmert habe. Bomben, Krieg und auch die Trennung von seiner Mutter hätten ihn traumatisiert.
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Heimat ist für beide schwer zu beschreiben
Hanns Steinhorst hat nach seiner Flucht viel darüber nachgedacht, was für ihn eigentlich Heimat ist. "Es sind Gerüche, es sind Menschen, es ist die Sprache, aber auch das Licht", findet Steinhorst. Für Ibo Mohamed ist Heimat ein Gefühl, das sich schwer beschreiben lässt - "wenn die Sonne scheint, wenn Menschen zusammen feiern und fröhlich sind". Es sei schwer, diese Gefühle vollständig in Worte zu fassen, so Mohamed.
Inzwischen fühlen sich beide Männer in Bayern zu Hause. Hanns Steinhorst lebt schon seit mehr als 75 Jahren in Oberfranken und war rund 35 Jahre an der Uni Bamberg am Lehrstuhl für Grundschuldidaktik in der Lehrerausbildung tätig. Der 24-jährige Ibo Mohamed arbeitet als Erzieher und ist unter anderem bei Fridays for Future aktiv. Er setzt sich für eine solidarische Friedenspolitik und eine nachhaltige Klimapolitik ein.