Ihren Blindenstock lässt Verena Bentele während ihres langen Museumbesuchs die ganze Zeit zusammengefaltet im Rucksack stecken. Die Leitlinien für den Taststock sind recht spärlich in den neugestalteten Ausstellungsräumen. Das Deutsche Museum in München hat ganz bewusst auf dieses taktile Leitsystem verzichtet, das sehbehinderten Menschen anderswo durchaus hilft.
Aber die von Geburt an blinde Verena Bentele zeigt in diesem Fall Verständnis. "In einem Museum wie diesem gibt es so viele Abzweigungen, dass ein taktiles Leitsystem die Begleitperson ohnehin nicht ersetzen kann. Schließlich will man sich in einem Museum ja auch überraschen lassen und spontan diesem oder jenem Inhalt folgen."
Barrierefreiheit ist mehr als nur eine Rampe für Rollstuhlfahrer
Bei der Modernisierung des Deutschen Museums spielt Barrierefreiheit eine große Rolle, erklärt Generaldirektor Wolfgang Heckl. Im ursprünglichen Bau von 1925 war so mancher Bereich, wie das Bergwerk oder das Planetarium, nur über Treppen erreichbar.
"Im Rahmen der Zukunftsinitiative, die uns ja baulich, technisch und inhaltlich auf die Höhe der Zeit bringen soll, gehört die Barrierefreiheit der Räume zwingend dazu", sagt Heckl. Im ersten, runderneuerten Teil des Hauses, der vergangenen Juli eröffnet wurde, kann man das durchgängig erleben. Per Aufzug, Rampe oder Hublift kommt man jetzt in alle Ausstellungen und auch auf alle Zwischenebenen. Dazu gibt es viele inklusive Angebote von Tastmodellen über Führungen in Gebärdensprache bis zu "Einfach-erklärt"-Texten.
Ein wichtiges Medium ist dabei die kostenlose "Deutsches Museum App", die mit zahlreichen Funktionen und Inhalten dazu beiträgt, dass hier wirklich alle Besucherinnen und Besucher einen leichten Zugang zu Naturwissenschaft und Technik finden.
Van Goghs Sonnenblumen barrierefrei
Bei ihrem Museumsrundgang ertastet Verena Bentele einige Überraschungen, die sie so nicht kannte. Allen voran die berühmten Sonnenblumen von Vincent van Gogh. Lange gleiten ihre Finger über ein Bronzerelief, das die Formen des Gemäldes dreidimensional wiedergibt. Verena Bentele staunt, wie feingliedrig sie van Goghs Pinselstrich nachempfinden kann. Auch habe sie zum ersten Mal ein Gefühl für den Hintergrund des Sonnenblumenbildes bekommen.
Verena Bentele ertastet das neue Bronzerelief von van Goghs Sonnenblumen
Wissensvermittlung über verschiedene Sinne
"Das Schöne bei der Vermittlung von Wissen und Bildung ist ja immer, wenn verschiedene Sinne angesprochen werden. Also nicht nur eine Erklärung hören, sondern auch etwas wie die Sonnenblumen ertasten. Das ist für mich sehr wichtig."
Auch am Buchstaben-Puzzle staunt die blinde Ex-Biathletin, die bei den Paralympics viele Goldmedaillen gewonnen hat: Bei dem Puzzle lassen sich handtellergroße Buchstaben auf einer Magnettafel verschieben. Auf den Teilen ist jeweils nur der Buchstabe A, in ganz unterschiedlichen Schrifttypen, deutlich hervorgehoben. In der Brailleschrift für Blinde braucht das A nur einen Punkt. Man frage sich doch, wozu die Sehenden so viele verschiedene Schrifttypen brauchen, lacht Verena Bentele und findet es dann aber doch sehr spannend, diese Vielfalt zu ertasten.
Verena Bentele staunt über die vielen verschiedenen Schriftypen
Deutsches Museum will für alle sein
Für die einen sind schon wenige Stufen ein großes Hindernis. Für die anderen versperren zu viele komplizierte Worte den Zugang zu neuem Wissen. Und wieder andere nehmen die Welt nur mit eingeschränkten Sinnen wahr, können etwa nicht hören oder nicht sehen. "Wir möchten das Deutsche Museum auch für all diese Menschen erlebbar machen, ein Museum für wirklich alle sein", sagt Sandra Kittmann, die im Haus für Barrierefreiheit zuständig ist.
So werden in der kostenlosen Museums-App 100 Exponate "einfach erklärt"; es gibt interaktive Lagepläne, die einem zeigen, wo man sich gerade befindet; man kann Highlight-Touren folgen oder sich Filme in Gebärdensprache ansehen. Für Gehörlose stehen dazu regelmäßig eigene Führungen von den Museum Signers auf dem Programm: Dabei führen gehörlose Kulturvermittler gehörlose Besucherinnen und Besucher durch die Ausstellungsthemen. Außerdem kann man bei Bedarf in den Veranstaltungen und Führungen eine mobile Induktionsanlage zur Hörverstärkung nutzen.
Das Umdenken hat gerade erst begonnen
"Im Moment arbeiten wir gerade daran, auch regelmäßig spezielle Führungen für Menschen mit Seh- oder Lernbeeinträchtigungen anzubieten", sagt Sandra Kittmann, die sich immer weiter darum kümmert, mögliche Hürden im Haus zu erkennen und dann zu beseitigen. VdK-Präsidentin Verena Bentele zeigt sich bei ihrem Besuch im Deutschen Museum sehr beeindruckt von den vielfältigen Ansätzen, die Barrierefreiheit voranzubringen. Sie wünscht sich aber, dass eine umfassende Barrierefreiheit in allen Museen vom Gesetzgeber künftig zwingend vorgeschrieben wird.
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