Radfahrer stauen sich an einer Ampel am Odeonsplatz
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Stau auf dem Radweg - in München keine Seltenheit. Eine Datenanalyse zeigt, wie sehr der Radverkehr durch Corona zugenommen hat.

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BR24-Datenanalyse: Ein Fünftel mehr Radfahrer in München

Der Start der Pop-Up-Radwege in München wurde wegen des schlechten Wetters um eine Woche verschoben - jetzt soll es aber losgehen. Eine BR24-Datenanalyse zeigt, warum sie wegen Corona jetzt besonders gebraucht werden.

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Corona hat nicht nur das Familien- und Arbeitsleben, sondern auch die Mobilität verändert. Leere Straßenbahnwagen und verwaiste Stadtautobahnen prägten in München seit dem Lockdown am 23. März das Stadtbild. Ein Verkehrsmittel ist aber eindeutig ein Gewinner der Pandemie: das Fahrrad.

In München kann man das gut nachvollziehen, denn hier messen sechs festinstallierte Raddauerzählstellen jeden Tag den Zweiradverkehr. BR24 hat fünf davon ausgewertet – mehr zu den Daten unten. Das Ergebnis: An allen fünf Stationen war die Zahl der Fahrradfahrer, die in den "Pandemiemonaten" März bis Mai ermittelt wurde, deutlich höher als im gleichen Zeitraum in den vorhergehenden drei Jahren:

Alle Stationen zusammengenommen, war von März bis Mai 2020 ein Fünftel mehr Radfahrer unterwegs als in den Jahren zuvor. Am stärksten zugenommen hat der Verkehr in der Bad-Kreuther-Straße. Fuhren hier in den vergangenen Jahren im Zeitraum März bis Mai etwa 261 Räder pro Tag durch, waren es 2020 rund 618 – eine Steigerung von 137 Prozent. Etwa zwei Drittel der gemessenen Radler war in Richtung Stadt unterwegs, ein Drittel stadtauswärts. Die am stärksten frequentierte Zählstelle an der Ecke Erhardtstraße – Ludwigsbrücke verzeichnete ein Plus von 16 Prozent. Statt durchschnittlich 4.064 kamen hier im März, April und Mai 2020 pro Tag etwa 4.716 Radfahrer durch, gleichmäßig verteilt auf beide Messrichtungen.

Zuwachs im April hauptsächlich am Wochenende

Betrachtet man jeden der Monate einzeln, zeigt sich eine unterschiedliche Verteilung des Zuwachses je nach Messstation – das größte Plus hatten alle Stationen aber im April. In diesem Monat war auch die Verteilung auf die Wochentage relativ einheitlich: Alle fünf Messpunkte hatten den größten Zuwachs am Freitag, Samstag und Sonntag, wie die folgende Grafik zeigt:

Florian Paul, der Radverkehrsbeauftragte der Stadt München, erklärt, wie es zu diesem speziellen Radl-Boom im April kam: Seit dem 21. März galt in Bayern eine Ausgangsbeschränkung. Unterwegs zu sein brauchte mit einem Mal einen triftigen Grund. Erlaubt war jedoch Individualsport im Freien – laut Paul für viele ein Anlass, das Fahrrad aus dem Keller zu holen. "Es gab einen regelrechten Ansturm auf die Fahrradgeschäfte", so der Radbeauftragte. "Die Nachfrage nach Ersatzteilen, Reparaturen und Neukäufen war so hoch, dass es jetzt Lieferengpässe gibt."

Lieferengpässe bei Fahrradhändlern

Hinzu kam, so Paul, das ungewöhnlich gute, trockene Wetter im April, das zum Radfahren eingeladen habe. Die verschärften Kontaktregelungen blieben bis Anfang Mai bestehen, auch wenn andere Lockerungen bereits ab dem 20. April schrittweise in Kraft traten. Daten und Experte sind sich also einig: Der starke Anstieg des Radverkehrs im April war ein Freizeitphänomen.

Im Mai sah die Lage anders aus. Die Verteilung des Zuwachses verschob sich in Richtung Mitte der Woche:

Die Messstationen an der Erhardtstraße und im Olympiapark haben im Mittel nur noch ein leichtes Plus - hier waren an den Samstagen sehr viel weniger Menschen unterwegs als in den Vorjahren. Im Hirschgarten und der Margaretenstraße dagegen waren im Mittel immer noch knapp 20 Prozent mehr Radler unterwegs. Der Zuwachs in der Bad-Kreuther-Straße blieb so hoch wie im April. Und während sich an den anderen Stationen die Richtungen in etwa die Waage halten, fällt an dieser Station auch auf, dass fast doppelt so viele Radler dazugekommen sind, die stadteinwärts fahren, als solche, die stadtauswärts unterwegs sind.

Langsam kehrt der Berufsverkehr zurück

Für Florian Paul sind die Ergebnisse wenig überraschend. Sie zeigten, dass der Berufsverkehr wieder Fahrt aufnimmt. Der wird sich laut dem Verkehrsexperten in den kommenden Wochen weiter auf die Straße verlagern – in Autos und auf Fahrräder. "Bereits während der Ausgangsbeschränkungen sind die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, nicht mit dem ÖPNV gefahren", sagt Paul. "Im April gab es massive Einbrüche von 75 bis 80 Prozent." Dieser Trend habe sich auch im Mai fortgesetzt, noch immer fehlten über die Hälfte der Fahrgäste in Bussen und Straßenbahnen. Viele hätten wahrscheinlich Angst, sich dort mit Corona anzustecken, meint Florian Paul.

Radverkehrsbeauftragter befürchtet Chaos und Staus

Der Radfahrbeauftragte befürchtet eine Verkehrskrise auf den Straßen. "Wenn auch nur die Hälfte der fehlenden ÖPNV-Gäste sich entscheidet, statt der Bahn das Auto zu nehmen, haben wir in München das absolute Chaos." Bereits jetzt nähere sich die Auslastung der Straße der Hundert-Prozent-Marke – obwohl noch viele Leute im Homeoffice seien.

Die gestiegenen Fahrradzahlen zeigten zwar, dass bereits einige die Zweiradalternative nutzten – etwa diejenigen, die gar kein Auto besitzen. Jetzt gelte es, so Paul, aber, eine signifikante Menge der Autobesitzer zu überzeugen, auch auf den Drahtesel umzusteigen. Allerdings würden diese dann wieder auf Radwege treffen, die ohnehin schon viel zu schmal und nicht ausreichend seien. "Wir sind in den letzten Jahren mit unserer Radverkehrsinfrastruktur einfach nicht hinterhergekommen", sagt Florian Paul.

Pop-Up-Radwege: Ein "kleiner Schritt" hin zur besseren Infrastruktur

Ein "kleiner Schritt", um die Sicherheit der Radfahrer zu verbessern und Anreize zu schaffen, soll die Einrichtung von sogenannten Pop-Up-Radwegen sein. Bis Ende Oktober werden an großen mehrspurigen Straßen in der Innenstadt Autofahrspuren zu Radwegen umdeklariert (siehe Karte oben).

Viele dieser Stellen habe man ausgewählt, weil es dort noch überhaupt keine Radwege gibt. "Elisenstraße, Theresienstraße – das sind bis jetzt sehr unattraktive, ja sogar gefährliche Strecken für Radfahrer", erklärt Florian Paul. "Jetzt bieten wir dort alten und neuen Radlern einen schnelleren und sicheren Weg durch die Stadtmitte an." Es seien auch "Dauerbrenner" der Radverkehrspolitik dabei, etwa die Rosenheimerstraße, über die seit Jahren diskutiert wird. Die Pop-Up-Spuren dort könnten etwa den knapp 850 Radlern, die in der Bad-Kreuther-Straße jeden Tag durchfahren, zugute kommen.

An der Ludwigsbrücke entstehen zwei neue Radwege in unmittelbarer Nähe der meist frequentierten Dauerzählstelle. Wie sehr hier Entlastung notwendig ist, lässt sich aus der zeitlichen Verteilung des Radverkehrs ableiten. So sah die letzte Maiwoche 2020 aus:

Am Samstag und Sonntag verteilt sich die große Masse gleichmäßiger über den Tag, mit einem Höhepunkt am Nachmittag. Unter der Woche jedoch gibt es Spitzen am Morgen und Abend – Radpendler auf dem Weg zur Arbeit. In den vergangenen Jahren waren hier an einem Wochentag im Mai bis zu 164 Radfahrer in 15 Minuten in eine Richtung unterwegs - knapp elf pro Minute.

Im Mai 2020 hat sich dieser Spitzenwert bereits auf zwölf pro Minute erhöht. Nimmt man an, dass diese nicht im Sekundentakt nacheinander fahren und sich zudem an den Ampeln stauen, kann man sich gut vorstellen, wie voll der schmale Radweg dann ist. "Das größte Problem ist, dass in diesem Bereich keine Möglichkeit für schnellere Radfahrer zum Überholen besteht", führt Florian Paul aus. Diese wichen dann oft auf den Fußweg aus und gefährdeten Fußgänger.

Paul hofft, dass sich diese Situation durch die neuen Radwege entspannen wird und dass dadurch mehr Menschen vom Fahrrad überzeugt werden können. "Das wird aber nicht von heute auf morgen passieren", so der Verkehrsprofi. "Die Leute müssen erst von dem Angebot erfahren und es kennenlernen."

Über die Daten

Die Daten der sechs fest installierten Raddauerzählstellen stellt die Stadt München auf ihrem Datenportal zur Verfügung. Drei Datensätze können unterschieden werden: Informationen über die Zählstellen selbst inklusive Geodaten, Tagesgesamtwerte mit Wetterdaten und die Messungen im 15-Minuten-Takt.

Bisher sind nur die Daten seit 2017 abrufbar, entweder als csv-datei via Download oder über eine API-Schnittstelle. Alle Zählstationen außer die Arnulfstraße messen in zwei Richtungen - an der Erhardtstraße wird außerdem der Fußweg mit berücksichtigt.

Die Zählstation Arnulfstraße wurde in dieser Analyse aus folgendem Grund nicht berücksichtigt: Als einzige Station wies sie im fraglichen Zeitraum einen Rückgang der Fahrradzahlen auf. Radverkehrsbeauftragter Florian Paul weißt darauf hin, dass an der Stelle in der Nähe des Bahnhofs eine große Baustelle die Messungen verfälscht haben könnte.

Die Baustelle an der Ludwigsbrücke hatte nach unseren Recherchen im Mai noch keine Auswirkungen auf die Zählstation Erhardtstraße.

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