Dampf quillt aus dem Kühlturm des Kernkraftwerks Isar 2 bei Landshut
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Dampf quillt aus dem Kühlturm des Kernkraftwerks Isar 2 bei Landshut.

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"Ist das alles?" - Bayern kritisiert AKW-Machtwort von Scholz

Die bayerische Regierung hat die Entscheidung von Kanzler Scholz zum Weiterbetrieb der verbleibenden Atommeiler bis April als unzureichend kritisiert. Auch der Bürgermeister von Niederaichbach am AKW Isar 2 wünscht sich eine noch längere Laufzeit.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat entschieden, dass die verbliebenen drei deutschen Atomkraftwerke noch bis Mitte April 2023 am Netz bleiben können. Dazu zählt auch das bayerische Atomkraftwerk Isar 2 bei Landshut. Kritik aus Bayern kam prompt: sowohl von der Staatsregierung, als auch aus dem betroffenen Bezirk Niederbayern. Wirtschaftsminister Habeck will die Entscheidung akzeptieren.

Söder: Problem nur vertagt

"Ist das alles? Was für eine Enttäuschung", schrieb Ministerpräsident Markus Söder (CSU) auf Twitter. Das Problem sei nur vertagt. "Das ist zwar eine Lösung im Ampelstreit, aber nicht für das Stromproblem in Deutschland", argumentierte Söder und warnte: "Die Gefahr eines Blackouts im kommenden Jahr bleibt bestehen." Dabei übte Söder erneut Fundamentalkritik an der Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP: "Die Ampel nimmt weiter steigende Strompreise billigend in Kauf. Diese Koalition ist ein Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland."

Aiwanger: Vertrauen in Regierung erschüttert

Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) kritisierte: "Der Kanzler springt mit April zu kurz." Und der Energieminister verzichte aus ideologischen Gründen auf Energieerzeugung. "Wenn der Kanzler auf öffentlichen Druck hin jetzt doch alle drei AKWs verlängern muss, das Energieministerium aber nur zwei wollte, lässt das tief blicken", sagte Aiwanger. Das Vertrauen in die Bundesregierung, ob sie wirklich alles tue, um die Energieversorgung in Deutschland sicherzustellen, sei tief erschüttert.

"Es glaubt auch niemand mehr, dass die Energieprobleme bis April so weit gelöst sind, dass wir keine Atomkraft mehr bräuchten. Wir müssen dringend zeitnah dafür sorgen, dass auch der Winter 2023/24 noch mit Atomstrom abgesichert wird." Hubert Aiwanger, Bayerns Wirtschaftsminister

Grüne und FDP werten Entscheidung jeweils als Erfolg

Grüne und FDP werteten Scholz' Entscheidung als Erfolg für die jeweils eigene Partei. Der FDP-Landesvorsitzende Martin Hagen nannte den Schritt eine "vernünftige Entscheidung". "Alle 3 AKWs über den 31.12.22 hinaus in Betrieb zu lassen senkt die Strompreise, sichert die Netzstabilität und ist gut fürs Klima. Der hartnäckige Einsatz der FDP hat hat gelohnt", schrieb Hagen auf Twitter.

"Bundeskanzler stützt Grüne Linie", schrieb Grünen-Landtagsfraktionschefin Katharina Schulze auf Twitter. Es gebe keinen Weiterbetrieb der Meiler bis 2024, sondern nur einen Streckbetrieb, um für den "schwierigen Winter" gerüstet zu sein. "Atomausstieg besiegelt. Keine neuen Brennstäbe. Gut!", fügte sie hinzu. Auch der Grünen-Bundestagsabgeordnete Dieter Janecek schrieb: "Atomausstieg kommt unwiderruflich zum 15. April. Für den Winter treffen wir Vorsorge und setzen gleichzeitig einen Riesenschwerpunkt auf Energieeffizienz. Gut."

Doch es gibt auch kritische Stimmen: "Emsland 'darf' jetzt noch weiterlaufen. Ob es das nach Dezember 2022 kann, ist eine ganz andere Frage. Und für die Netzstabilität wird es nicht gebraucht, das hat der Stresstest schon gezeigt", meint Grünen-Landeschef Thomas von Sarnowski.

AfD kritisiert "Orientierungslosigkeit"

Der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Bayerischen Landtag, Ulrich Singer, äußerte sich kritisch: Die Entscheidung von Scholz zeige "die Orientierungslosigkeit und das gefährliche Halbwissen, die in der ganzen Regierung vorherrschen. Hier hat Koalitionstaktik über die Vernunftpolitik gesiegt". Die Entscheidung über die AKW's sei lediglich vertagt worden. Er sprach sich erneut für eine echte Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke aus und forderte Neuwahlen.

Niederaichbachs Bürgermeister: Was soll danach passieren?

Doch was passiert nach dem 15. April? Das fragt sich Niederaichbachs Bürgermeister Josef Klaus (CSU), dessen Gemeinde nahe dem Kernkraftwerk Isar 2 liegt. "Für mich stellt sich tatsächlich die Frage, was dann nach dem 15. April passieren soll. Ich meine, dass der nächste Winter genauso kritisch sein wird wie dieser, und dass die Kraftwerke über den 15. April hinaus laufen sollten", so Klaus zum BR. Der Beschluss des Kanzlers sei mehr als überfällig gewesen, man sei in einer tatsächlichen Notlage. Die Bürger bewege die Frage nach der Versorgungssicherheit. Es führe an einem Weiterbetrieb bis Mitte April nichts vorbei, so Klaus.

Ob der Weiterbetrieb positive Auswirkungen für Niederaichbach habe, zum Beispiel steuerlich, könne er noch nicht sagen. Um das ginge es jetzt auch nicht, sondern es gehe letztendlich um die Sicherheit der Bevölkerung und die Sicherheit der Versorgung mit Strom, und dass die Infrastruktur stehe. Derzeit werde in den Gremien über Notfallpläne und Notstromaggregate diskutiert, daran sehe man laut Bürgermeister Klaus, wie kritisch die Situation sei.

Video: Niederaichbachs Bürgermeister über den Weiterbetrieb von Isar 2

Josef Klaus
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Josef Klaus, der Bürgermeister von Niederaichbach im Kreis Landshut

Essenbachs Bürgermeister: Geht um Versorgungssicherheit

Dieter Neubauer (CSU), der Bürgermeister von Essenbach, in dessen Gemeindegebiet Isar 2 steht, findet Spekulationen über eventuelle Steuereinnahmen für die Gemeinde "fehl am Platz". Es gehe nur um die Versorgungssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger "und sonst um gar nichts".

Auch Neubauer fragt sich, was nach April 2023 passieren soll. "Ich hoffe nur, dass es keine Entscheidung sein wird nach dem Motto: 'Wasch mich, aber mach mich nicht nass.' Denn damit wäre unserer Bevölkerung nicht gedient", so Neubauer in einem kurzen Video-Statement.

Betreiberfirma von Isar 2 begrüßt Entscheidung

Der Geschäftsführer der Betreiberfirma von Isar 2, Guido Knott, begrüßte derweil die Entscheidung. Man erwarte nun eine zügige gesetzliche Umsetzung, so die Betreiberfirma Preussen Elektra. Ferner kündigte das Unternehmen an, die Vorbereitungen auf den Weiterbetrieb fortzusetzen: "Für Isar 2 bedeutet dies, dass wir die Anlage Ende dieser Woche herunterfahren, um die notwendige Wartung an den Druckhalterventilen durchzuführen", so Knott. Die während des Kurzstillstands vorgesehene Reparatur ist demnach für den Weiterbetrieb über das Jahresende hinaus notwendig.

Scholz spricht Machtwort nach langem Streit

Am Abend hatte ein Regierungssprecher die Entscheidung von Scholz zum Weiterbetrieb der Atomkraftwerke bekanntgegeben. Die drei Kraftwerke sollen bis maximal Mitte April kommenden Jahres weiterlaufen können. "Es wird die gesetzliche Grundlage geschaffen, um den Leistungsbetrieb der Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 sowie Emsland über den 31.12.2022 hinaus bis längstens zum 15.04.2023 zu ermöglichen", heißt es in einem Schreiben, das an Wirtschaftsminister Robert Habeck, Umweltministerin Steffi Lemke (beide Grüne) sowie Finanzminister Christian Lindner (FDP) adressiert ist.

Tagelang hatten vor allem FDP und Grüne darum gestritten, ob und wie lange die drei noch laufenden Atomkraftwerke weiter betrieben werden sollen. Die Grünen hatten am Wochenende auf einem Parteitag beschlossen, nötigenfalls einen sogenannten Streckbetrieb für die Meiler Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis Mitte April 2023 mitzutragen.

Die FDP wollte auch das dritte Atomkraftwerk Emsland am Netz halten und alle drei bis ins Jahr 2024 hinein laufen lassen. Gegebenenfalls sollten außerdem bereits stillgelegte AKW reaktiviert werden.

Wirtschaftsminister Habeck will das Machtwort des Kanzlers, die drei noch am Netz befindlichen deutschen Atomkraftwerke bis Mitte April weiterlaufen zu lassen, akzeptieren.
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Habeck akzeptiert das Machtwort des Kanzlers, die drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke bis Mitte April weiterlaufen zu lassen.

Habeck wirbt für Scholz' AKW-Entscheidung

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat dafür geworben, der Entscheidung des Kanzlers im Atomstreit zu folgen. Dass Olaf Scholz (SPD) nun in der Frage der Laufzeiten der verbleibenden drei Atomkraftwerke seine "maximale Autorität" eingesetzt habe, sei eine "unübliche Lösung einer verfahrenen Situation", sagte Habeck am Montag in den ARD-"Tagesthemen". "Er ist voll ins Risiko gegangen, und ich werbe dann dafür, dass wir jetzt diesen Weg auch gehen, weil alles andere staatspolitisch nicht verantwortlich wäre." 

Die Grünen-Spitze hatte zurückhaltend auf die Entscheidung von Scholz reagiert, dass die drei AKW noch bis Mitte April 2023 laufen sollen. Die Fraktionsführung will über die Entscheidung beraten.

Habeck dagegen bezeichnete den Vorschlag von Scholz als einen, "mit dem ich arbeiten kann, mit dem ich leben kann". "Wir mussten da irgendwie rauskommen", fügte er mit Blick auf den tagelangen Streit insbesondere zwischen Grünen und FDP hinzu. "Da ist zu viel Zeit ins Land gestrichen, wir hätten das früher klären müssen, das war aber nicht möglich." Danach gefragt, welchen Eindruck der Streit bei den Bürgern gemacht habe, sagte er: "Wahrscheinlich keinen guten und genützt hat es auch nichts."

Politikexperte von Lucke: "Rabenschwarzer Tag für die Ampel"

Die Ampelregierung ist nach Ansicht des Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke nach der Atomkraft-Entscheidung des Bundeskanzlers beschädigt. In der Koalition gebe es keine Gewinner, sagte von Lucke bei BR24 und sprach von einem "rabenschwarzen Tag für die Ampel". "Was die Koalition mit dem heutigen Tage erlebt hat, ist dramatisch", so der Politikexperte.

Die Grünen müssten sich nun dem Beschluss des Kanzlers beugen, dann sonst müsse Scholz die Vertrauensfrage stellen und die Koalition wäre am Ende. Dazu bräuchten sie aber die Bundestagsfraktion, "und die hat sich eigentlich klar dagegen ausgesprochen."

Auch die FDP sei nur "ganz sporadischer Gewinner", da ihre "Konkurrenz" CDU/CSU und AfD weiterhin eine längere Laufzeit fordern würde. Auch der Bundeskanzler sei massiv in seiner Autorität geschädigt, da er nicht in der Lage gewesen sei, die Ampel "argumentativ zu führen". Wenn Scholz die Ampelregierung derart "auf Linie zwingen muss, ist das natürlich ein ausdrückliches Führungs- und Überzeugungsversagen".

Dass es der Bundesregierung gelingt, sich künftig wieder besser aufzustellen, bezweifelte der Politikexperte.

Richtlinienkompetenz – Machtwort des Kanzlers

In Artikel 65 des Grundgesetzes heißt es: "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung (….)".

Die Bundesminister sind in ihrer Eigenschaft als Minister an die Richtlinien des Kanzlers gebunden. Eine exakte Definition der "Richtlinien der Politik" gibt es nicht. Wie weit die Befugnis des Kanzlers reicht, ist rechtlich nicht eindeutig. Dieses Prinzip ist eine Konsequenz daraus, dass nur der Kanzler vom Bundestag ins Regierungsamt gewählt wird und auch nur er vom Parlament gestürzt werden kann.

Dass der Kanzler ein Machtwort sprechen kann, ist außerdem in Paragraf 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung geregelt. Bestimmte formale Vorgaben gibt es nicht. Die Anweisung des Kanzlers kann schriftlich, aber auch mündlich erfolgen. Von der Richtlinienkompetenz machen Bundeskanzler nur in besonderen Fällen Gebrauch.

Scholz: "Gut, dass ich sie habe"

Im Sommer hatte Scholz bei einer Pressekonferenz erklärt. "Es ist gut, dass ich sie habe. Aber natürlich nicht in der Form, dass ich jemandem einen Brief schreibe: 'Bitte, Herr Minister, machen Sie das Folgende', sondern es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Regierung die wichtigen Entscheidungen trifft, die uns in die Lage versetzen, auf diese Krise zu reagieren."

Was bedeutet der Schritt für Scholz?

Scholz musste nach nur gut zehn Monaten "Ampel"-Regierung zum schärfsten Schwert des Kanzlers greifen, um den Konflikt zu lösen. Seine Vorgängerin Angela Merkel (CDU) tat dies nur ein einziges Mal in ihren 16 Regierungsjahren und drohte dies im Falle Seehofers letztlich auch nur an. Der frühere SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering hatte 2005 die Anwendung Richtlinienkompetenz in Regierungsbündnissen als "nicht lebenswirklich" bezeichnet: "Wer das macht in einer Koalition, der weiß, dass die Koalition zu Ende ist."

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