Polizeischutz vor der Münchner Synagoge am Jakobsplatz.
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Polizeischutz vor der Münchner Synagoge am Jakobsplatz.

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Bayerisch. Jüdisch. Ein Problem?

Die Antisemitismus-Vorwürfe von Gil Ofarim haben weltweit für Entsetzen gesorgt. Doch gehören solche Erfahrungen auch für Juden in Bayern zum Alltag? Wie steht es um jüdisches Leben, wenn Synagogen und Schulen rund um die Uhr bewacht werden müssen?

Seit mehr als 1.700 Jahren leben Juden in Deutschland. Und mittlerweile ist jüdisches Leben auch wieder sichtbar: Synagogen werden feierlich eingeweiht, jüdische Schulen und Kultureinrichtungen eröffnet. Doch es gibt offenbar noch immer ein Problem – und das zeigt sich nicht nur in der ständigen Polizeipräsenz vor jüdischen Einrichtungen.

Gil Ofarim – Ähnliche Vorfälle auch in Bayern

"Erfahrungen von Antisemitismus, wie sie Gil Ofarim in einem Leipziger Hotel machen musste, sind auch in Bayern Alltag", sagt Annette Seidel-Arpacı, Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS).

Immer wieder komme es auch in Bayern zu Aufforderungen, keine jüdischen Symbole öffentlich zu tragen. Der Vorwurf laute dabei dann oft, dass man damit den Antisemitismus sozusagen 'herausfordere', so Seidel-Arpacı. Der Umgang mit den Betroffenen sei zudem oft von Ignoranz geprägt: "Das Problem heißt Antisemitismus und eine solche Opfer-Täter-Umkehr ist letztlich ein Teil davon."

Der Musiker Gil Ofarim hat den Vorfall in Leipzig über soziale Netzwerke öffentlich gemacht und daraufhin einen weltweiten Sturm der Entrüstung ausgelöst. Andere, ähnliche antisemitische Angriffe bleiben hingegen meist im Verborgenen.

"Es ist ungeheuerlich, dass Juden Angst vor Anfeindungen und Angriffen haben müssen und Angst davor haben, ihr Jüdischsein offen zu zeigen." Dr. Annette Seidel-Arpacı, RIAS Bayern

Der mutmaßliche Antisemitismus-Vorfall um Gil Ofarim in Leipzig ist bisher nicht abschließend geklärt. Derzeit laufen die Ermittlungen, auch die Hotelführung ist um Aufklärung bemüht. Der beschuldigte Hotelangestellte hat Anzeige wegen Verleumdung gestellt.

  • Zum Artikel "Antisemitismus in Hotel: Fall Ofarim zieht weitere Kreise"

131 antisemitische Vorfälle in Bayern seit Mitte 2019

Am 1. April 2019 nahm die vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales geförderte Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) ihre Tätigkeit auf. Seitdem sind 131 antisemitische Vorfälle bekannt geworden, die sich im direkten persönlichen Kontakt ereigneten.

In 57 Fällen wurden Betroffene als Juden adressiert und angefeindet. Dabei handelt es sich unter anderem um einen Fall extremer Gewalt, sechs Angriffe, fünf Bedrohungen und vier Fälle antisemitischer Diskriminierung.

Laut RIAS Bayern wurden die Betroffenen ebenfalls oft anhand jüdischer Symbole wie einem Davidstern oder einer Kippa als Juden identifiziert.

Rabbiner-Familie in München bespuckt, Fahrgast in Augsburg beleidigt

So wurden im August 2019 beispielsweise ein Rabbiner und seine Söhne in München auf offener Straße beschimpft und bespuckt. Im Mai 2020 wurden in einem Münchner Wohnhaus, in dem zwei jüdische Familien wohnen, im Fahrstuhl die Parolen "Juden raus" und "Sieg Heil" hinterlassen. Im März 2021 ist in München ein Jude, der eine Kippa trug, ebenfalls beleidigt und bespuckt worden. Im Mai 2021 hielt ein Mann in einer Münchner Gaststätte die Kopfbedeckung eines Gastes für eine Kippa, woraufhin er diesen körperlich angriff und antisemitisch beschimpfte.

Im November 2020 kommentierte ein Nutzer das TikTok-Video einer jüdischen Nürnbergerin mit dem Satz "Hör auf palästinensisches Land zu stehlen".

Im Mai 2021 beschimpften Jugendliche einen Fahrgast in einem Augsburger Bus mit massiv beleidigenden und volksverhetzenden Worten, nur weil der Mann einen Sticker gegen Antisemitismus und für Solidarität mit Israel bei sich trug.

Antisemitische Angriffe wie diese verzeichnet die Recherche- und Informationsstelle und wertet sie aus. Es ist aber davon auszugehen, so RIAS-Leiterin Seidel-Arpacı, dass nur ein Bruchteil der Vorfälle tatsächlich gemeldet wird.

Hinzu kommt für viele jüdische Menschen die ständige Angst vor einem Anschlag, wie das Attentat auf eine Synagoge in Halle vor zwei Jahren.

Knobloch: "Hätte mir gewünscht, dass solche Nachrichten weniger werden"

Auch Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München und Oberbayern, weist immer wieder darauf hin, dass Jüdinnen und Juden eben nicht so ein 'normales' Leben führen wie ihre Nachbarn und dass es noch immer ein Antisemitismus-Problem in Bayern gibt.

"Der Vorfall in Leipzig fügt sich leider ein in eine lange Reihe von judenfeindlichen Vorfällen, die von der Beleidigung bis zu offener Gewalt reichen. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Nachrichten wie diese mit der Zeit weniger werden, aber das Gegenteil ist der Fall", so Charlotte Knobloch auf BR-Anfrage.

"Wir feiern zwar heuer ein Jubiläum der jüdischen Gemeinschaft, aber vielen ist gerade überhaupt nicht zum Feiern zumute." Charlotte Knobloch, IKG-Präsidentin

Fast jeder jüdische Mensch, so die IKG-Präsidentin weiter, könne heute ähnliche Geschichten wie Gil Ofarim erzählen. Um das Vertrauen nicht weiter zu beschädigen, dürfe Judenhass in Deutschland niemals straffrei bleiben, fordert Knobloch.

Spaenle: Unternehmen sollen sich klar gegen Antisemitismus stellen

Nach dem Vorfall in Leipzig hat sich Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle (CSU) dafür ausgesprochen, dass Unternehmen eindeutig gegen Antisemitismus Stellung beziehen und sich auch für das Existenzrecht Israels bekennen. Anlass für diese Forderung sei auch das laufende Verfahren gegen den Bundestag, den bisherigen Beschluss gegen die BDS-Bewegung aufzuheben.

Der Antisemitismus-Beauftragte forderte die Unternehmen auf, in der gesellschaftlichen Diskussion beim Kampf gegen Judenhass klar Position zu beziehen. Geschäftsführungen und Vorstände seien Vorbilder für die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, so Spaenle.

Was tun gegen Antisemitismus?

Was kann aber jede und jeder Einzelne gegen Antisemitismus tun? Und wie können Jüdinnen und Juden besser geschützt werden?

"Zunächst einmal wäre es geboten, dass Betroffene in der direkten Situation Unterstützung von Anderen bekommen – was leider meist nicht passiert", antwortet RIAS-Leiterin Seidel-Arpacı auf diese Frage. Außerdem müsse bei vielen ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Antisemitismus in jedweder Form nicht toleriert werden darf.

Auch Bayerns Antisemitismus-Beauftragter Ludwig Spaenle setzt vor allem auf Bildung und Prävention:

"Bildungs- und Überzeugungsarbeit sind die zentralen Instrumente gegen Judenhass in der Gesellschaft – aber sie wirken nicht von heute auf morgen, sondern langfristig." Ludwig Spaenle, Antisemitismus-Beauftragter in Bayern

Wer selbst Betroffen ist/war oder einen antisemitischen Vorfall beobachtet hat, kann sich auch an RIAS Bayern wenden. Die Recherche- und Informationsstelle nimmt Meldungen über antisemitische Vorfälle auf, wertet sie aus und unterstützt Betroffene von Antisemitismus in Bayern.

💡 Was ist RIAS Bayern?

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) ist beim Verein für Aufklärung und Demokratie (VAD) e.V. angesiedelt und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert. Am 1. April 2019 nahm RIAS Bayern ihre Tätigkeit auf. Hauptsächlich nimmt sie Meldungen über Antisemitismus in Bayern auf und unterstützt Betroffene. Antisemitische Vorfälle – auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle – können hier oder per Telefon unter 089 / 122 234 060 gemeldet werden.

Wir haben den Artikel um Informationen zum Vorfall in Leipzig ergänzt. (10.10.2021, 10:30 Uhr)

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