Ein Mann mit Rucksack schaut einem vollen Zug hinterher.
Bildrechte: BR/Kristina Kreutzer

Kein Platz: Der Regionalzug ist voll, Karl Weber muss auf einen Alternativzug warten.

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Barrierefreiheit und 9-Euro-Ticket:"Für mich ist es die Hölle"

Das 9-Euro-Ticket wird stark nachgefragt. Volle Regionalzüge sind die Folge. Aber wie erleben Menschen mit Behinderung die Auswirkungen des Sondertarifs? Kommen sie - buchstäblich - überhaupt noch zum Zug? Ein Erfahrungsbericht.

Auf Gleis 3 am Bahnhof im oberfränkischen Lichtenfels ertönt eine Lautsprecherdurchsage: "RE42 nach Leipzig Hauptbahnhof, Abfahrt 10.45 Uhr – heute circa zehn Minuten später. Grund dafür ist eine durch hohes Fahrgastaufkommen verlängerte Ein-und Ausstiegszeit". Diese Durchsage hört Karl Weber nicht zum ersten Mal in den vergangenen Wochen. Kopfschüttelnd setzt er sich auf eine Bank und wartet. Er ahnt bereits, was ihn gleich erwarten wird: "Da werde ich nicht mehr reinpassen. Der Zug ist voll."

Karl Weber: "Für mich ist das die Hölle"

Karl Weber ist 57 Jahre alt und wohnt im Landkreis Kronach. Vor zehn Jahren hatte er einen Augeninfarkt, seine Sehkraft ist seitdem massiv eingeschränkt. Seinen Job als Lkw-Fahrer musste er aufgeben. Wenn er einkaufen oder zum Arzt will, ist er auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Seit Einführung des 9-Euro-Tickets versucht er, die Fahrten mit dem Zug aber möglichst zu reduzieren. "Für die Leute ist das Angebot klasse, aber für mich ist es die Hölle. Ich komme nirgends mehr hin, das ist eine Gemeinheit", so Weber. Arztbesuche plant er momentan mit mindestens zwei Stunden zusätzlicher Anreisezeit.

Reduzierte Fahrten durch volle Züge

Und tatsächlich: Seine Befürchtungen stimmen. Als sich die Zugtüren des roten Regionalexpress öffnen, stehen die Fahrgäste bereits dicht aneinander gedrängt in den Gängen bis zum Aus- und Einsteigebereich. Karl Weber geht nah an die Tür, um erkennen zu können, wie voll der Zug ist. "Das ist unmöglich da rein zu kommen, keine Chance", sagt er schließlich. Neben ihm hat bereits eine Mutter samt Kinderwagen und zwei Kleinkindern alle Versuche, einzusteigen, aufgegeben: "Was willst du da machen? Ich war schon darauf vorbereitet, die Züge sind immer voll – früh, mittags, nachmittags. Deswegen fahre ich momentan nur ganz wenig, es macht einfach keinen Spaß."

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt

Den aktuellen Sondertarif sieht die Bezirksgeschäftsführerin des Sozialverbands "VdK Oberfranken", Andrea Stühler-Holzheimer, mit gemischten Gefühlen. Sie sagt: Für Menschen, die aufgrund ihres Einkommens auf ein verbilligtes Ticket für den Nahverkehr angewiesen sind, sei dies ein tolles Angebot. Allein in Oberfranken seien das laut Bayerischem Landesamt für Statistik knapp 10.000, bayernweit über 130.000 Menschen.

Für Menschen mit anerkannten Mobilitätseinschränkungen bedeute das 9-Euro-Ticket aber, dass die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben momentan nicht gegeben sei, so Stühler-Holzheimer. "Oft ist man auf jemanden angewiesen, der mitkommt. Das ist schon die erste Hürde. Die nächste Hürde: Habe ich Zugang zu den Gleisen? Und dann, wenn sie es endlich geschafft haben und einsteigen wollen, ist der Zug voll. Das kann nicht sein", so Stühler-Holzheimer.

In Bayern sind nach Angaben des Zentrum Bayerns für Familie und Soziales (ZBFS) knapp zwei Millionen, in Oberfranken rund 193.000 Menschen mobilitätseingeschränkt. "Die Dunkelziffer ist sicherlich wesentlicher höher, denn ältere Menschen sind meist grundsätzlich mobilitätseingeschränkt", so die VdK-Bezirksgeschäftsführerin.

Deutsche Bahn: Maximale Zuglängen eingesetzt

Bereits jetzt wird in der Politik über ein Bundes-, Klima- oder ein Monatsticket diskutiert. Sollte es ein ähnliches Angebot wie das nun auslaufende 9-Euro-Ticket geben, dann müsste es mehr Züge, mehr Plätze und eine häufigere Taktung geben, so Andrea Stühler-Holzheimer.

Auf Nachfrage bei der Deutschen Bahn heißt es dazu, dass die DB zum 1. Juni mit Einführung des 9-Euro-Tickets im Regionalverkehr in Bayern bereits rund 50 zusätzlichen Züge und rund 250 zusätzliche Fahrten ermöglicht habe. Das entspreche einer Erweiterung des täglichen Angebots um 60.000 Sitzplätze im Regionalverkehr. "Wir fahren die maximal möglichen Zuglängen, wann und wo immer es möglich ist", so eine Bahn-Sprecherin.

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Karl Weber ist auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen.

Drängendes Thema: Barrierefreie Bahnhöfe

Unabhängig vom 9-Euro-Ticket beschäftigt den VdK vor allem das Thema Barrierefreiheit der Bahnhöfe. Hier müsse noch viel passieren, gerade in Oberfranken, so Andrea Stühler-Holzheimer. Auch bei der Bahn nehme man dieses Thema sehr ernst, heißt es auf Nachfrage. So seien beispielsweise rund 70 Prozent der Fahrzeugflotten der DB im Regionalverkehr an einer Bahnsteighöhe barrierefrei und zusätzlich mit Ein- und Ausstiegshilfe ausgestattet, so eine Sprecherin der Bahn. Auch unabhängig vom 9-Euro-Ticket rüste die DB ihre Bahnhöfe, Züge, Busse, Reisezentren, Fahrkartenautomaten und digitalen Plattformen kontinuierlich weiter Richtung Barrierefreiheit aus, heißt es weiter.

"Jedes Jahr kommen dank der gemeinsamen Anstrengungen von DB, Bund und Freistaat weitere barrierefreien Stationen hinzu", so die Sprecherin der Bahn. Andrea Stühler-Holzheimer geht das aber nicht schnell genug, vor allem im ländlichen Bereich: "Das Tempo ist einfach zu langsam für die Menschen, die darauf angewiesen sind. Von Barrierefreiheit in Bayern, wie sie Horst Seehofer bis 2023 angekündigt hat, sind wir weit entfernt."

Ausweichzüge und die Hoffnung auf September

Karl Weber hat sich mittlerweile an seinem Handy mit extra großer Schrift und seiner Lupe in der Hand einen alternativen Zug ausgesucht, um nach Kronach zu kommen. Die gelben Abfahrtspläne an den Bahnsteigen sind viel zu klein für seine Augen. Eine gute halbe Stunde muss er warten, bis der Zug kommt. Diesmal hat er Glück, er bekommt einen Platz und auch die Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern und dem Kinderwagen ist eingestiegen. Karl Weber zählt regelrecht die Tage, an denen es noch das 9-Euro-Ticket gibt. "Ich freue mich auf den 1. September, dann mache ich wieder mal eine längere Tour."

Ein Mann steht auf einem Bahnsteig.
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Seit dem 9-Euro-Ticket sind Züge überfüllt und die Barrierefreiheit für Karl Weber nicht mehr garantiert.

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