Aktuell sind besonders viele Menschen in Deutschland krank. Das ist für die Saison nicht ungewöhnlich, doch in diesem Jahr ist die Zahl der Krankheitsfälle überdurchschnittlich hoch.
Anhand der Daten, die das Robert Koch Institut (RKI) in seinem GrippeWeb-Wochenbericht für die KW 48 (28.11. – 04.12.2022) veröffentlicht, sieht man einen deutlichen Anstieg von Atemwegserkrankungen in diesem Jahr (rote Linie) im Vergleich zu den Vorjahren.
Grafik aus dem Wochenbericht des RKI
Mit einer Gesamtrate neu aufgetretener akuten Atemwegserkrankung (ARE) von 11,4 Prozent waren in der Kalenderwoche 48 etwa 9,5 Millionen Personen in Deutschland an Husten oder Halsschmerzen, teils mit Fieber, erkrankt.
Hausarzt: "Wir werden von Infektpatienten überrannt!"
Gerade die ohnehin schon angespannte Personalsituation im Medizin- und Pflegebereich wird durch die Krankheitswelle noch verstärkt. Denn nicht nur viele erkrankte Patienten, sondern auch krankes Personal belastet die Kliniken und Praxen. "Wir werden von Infektpatienten überrannt", berichtet Oliver Abbushi, der eine Hausarztpraxis in Oberhaching hat. "Durch den Ausfall von Personal ist es für jeden Einzelnen noch ein deutliches Mehr an Belastung." Für den Hausarzt ist die aktuelle Krankheitswelle überhaupt nicht typisch für diese Jahreszeit: "Wir erwarten solche Zahlen normalerweise erst im Februar/März".
Zahl der Arztbesuche über Wert vor der Pandemie
Die Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI), die Meldungen von Haus- und Kinderarztpraxen auswertet, berichtet, dass die Zahl der Arztbesuche über dem Wertebereich der vorpandemischen Jahre um diese Zeit liegt. Um dem großen Ansturm an Patienten entgegenzuwirken setzt die Praxis von Abbushi auch auf andere Maßnahmen: "Wir nutzen zum Beispiel die Videosprechstunde, damit nicht jeder in die Praxis kommt." Die Gefahr, dass die hausärztliche Versorgung in Bayern auf dem Spiel steht, sieht er bis jetzt noch nicht. Trotzdem werde teilweise "bis halb neun am Abend gearbeitet, um den vielen Patienten gerecht zu werden", so Abbushi.
Theorie "Immunschuld": Wurde das Immunsystem während der Pandemie geschwächt?
Als Grund für die hohe Anzahl an Krankheitsfällen wird in sozialen Netzwerken immer wieder der Begriff der "Immunschuld" vorgebracht. These: Die pandemiebedingten Schutzmaßnahmen - so die User - hätten dem Immunsystem nachhaltig geschadet. Es sei durch Abstand, Maske und Co. nicht ausreichend trainiert worden. Andere Viren würden nun heftiger zuschlagen können als früher, so die Kommentare.
Immunologe: "Immunschuld" ist denkbar schlecht gewählter Begriff"
Im Interview mit BR24 bezeichnet Reinhold Förster von der Medizinischen Hochschule Hannover den Begriff "Immunschuld", der seit 2021 häufig von Kritikern der Corona-Maßnahmen verwendet wird als "denkbar schlecht". Das Immunsystem habe durch die Pandemie nicht gelitten. "Ein Leiden wäre ja, wenn es schwach würde und nicht mehr reagieren kann. Das ist nicht der Fall." Was jedoch stimme sei: "Es fielen Trainingseinheiten aus. Das Immunsystem wird sehr spezifisch auf bestimmte Krankheitserreger trainiert", so der Professor. Durch das Masketragen habe man zum Beispiel keinerlei "Trainingseinheiten" für Krankheitserreger in Lebensmitteln verpasst. Für Viren, die die Atemwege betreffen jedoch schon: "Das Immunsystem hat sich deshalb deutlich weniger mit Erkältungsviren auseinandergesetzt", so Förster.
Als Grund für die aktuelle Krankheitswelle sieht er deshalb ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren: Das Influenzavirus sei dieses Jahr früher da als sonst, zusätzlich zu anderen Viren wie RSV und dem Rhino-Virus.
Unterschiedliche Viren: Mehrere "Erkältungen" hintereinander möglich
Daher sei es auch möglich, dass man sich nun innerhalb von kurzer Zeit, drei Mal nacheinander mit unterschiedlichen Viren anstecken kann. Ein User berichtet in den Kommentaren: "Ich habe jetzt die dritte Erkältung innerhalb von acht Wochen. Das ist nicht normal". Immunologe Förster entgegnet: "Eigentlich ist das schon normal. Die Immunität, die man gegen das eine Virus hat, hilft nicht, um eine Immunität gegen ein anderes zu bekommen." Daher sei zum Beispiel eine Infektion mit dem Rhinovirus, dann mit Influenza und anschließend mit dem klassischen Corona-Erkältungsvirus durchaus denkbar.
Die Aufzeichnung des Livestreams mit den Interviews von Professor Reinhold Förster und Dr. Oliver Abbushi sehen Sie hier eingebettet.
Corona nicht verantwortlich für akute Krankheitswelle
Jede Woche wertet das Nationale Referenzzentrum für Influenzaviren (NRI) eingesandte Proben von Ärzten aus. In den 329 eingesandten Sentinelproben wurden hauptsächlich Influenzaviren (51 Prozent) und Respiratorische Synzytialviren (RSV) (15 Prozent) nachgewiesen. SARS-CoV-2 hatte nur einen Anteil von zwei Prozent. Auf das Coronavirus ist die akute Krankheitswelle also nicht zurückzuführen. Noch im Oktober gab es jedoch viele Krankschreibungen wegen Corona.
Auch in Bayern haben die Corona-Fälle laut Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) im Vergleich zu anderen Atemwegserkrankungen einen geringen Anteil. Holetschek begründete das Ende der Maskenpflicht im ÖPNV unter anderem damit, dass SARS-CoV-2 im Vergleich zu Influenza und RSV in Bayern nur noch einen geringen Teil ausmache.
Nachholeffekt: Babys und Kleinkinder von RSV besonders betroffen
Besonders Kinder im Alter von 0 bis 4 Jahren sind laut RKI derzeit besonders häufig krank und von Atemwegsinfekten betroffen. Besonders häufig treten hier Infektionen mit dem RS-Virus auf. Professor Reinhold Förster sieht den Grund dafür in der nahezu komplett ausgebliebenen RSV-Welle im Jahr 2020. "Die Kinder konnten sich in diesen Jahren nicht infizieren und hatten daher keinerlei Chance eine Immunität zu entwickeln", so der Immunologe. Dieses Jahr gebe es daher einen Nachholeffekt, der auch in anderen Ländern so zu beobachten sei. RSV kann bei einigen Kindern Atemnot verursachen und eine intensivmedizinische Behandlung nötig machen. In Bayern geraten Kinderkliniken zunehmend an ihr Limit.
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