In Deutschland wird derzeit heftig über den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken debattiert. Im Gespräch ist unter anderem die Verlängerung der Laufzeit für den Reaktor Isar 2 bei Landshut. Eigentlich sollte der Meiler, der zu den letzten drei verbliebenen in der Bundesrepublik zählt, zum Jahresende vom Netz gehen.
Mitte Juni war ein Gutachten des TÜV bekannt geworden, welches im Auftrag des bayerischen Umweltministeriums einen Weiterbetrieb des Atomreaktors Isar 2 auch über den 31. Dezember 2022 hinaus sicherheitstechnisch für möglich hält. Auch eine Wiederinbetriebnahme des bereits abgeschalteten Blocks C in Gundremmingen sei "aus technischer Sicht möglich", steht in dem auf den 14. April 2022 datierten TÜV-Gutachten.
Kanzlei wirft TÜV "schlampige Argumentation" vor
Eine Hamburger Rechtsanwaltskanzlei stellt nun die Unabhängigkeit des TÜV bei der Sicherheitsbewertung in Frage. Der Verband sei befangen, schreiben die Hamburger Anwälte in dem 21-seitigen Rechtsgutachten, das BR24 vorliegt und im Auftrag von Greenpeace Deutschland erstellt wurde. Die Gutachter werfen dem TÜV Süd eine "schlampig argumentierende Auftragsarbeit" vor, die "nicht als seriöse Bewertung anerkannt werden könne". Auch ergebe sich der Eindruck, der TÜV lasse geltendes Atomrecht außer Acht.
Weiter heißt es in dem Gutachten, die Bewertung sei "offenbar für den Einsatz als Waffe in der aktuellen Diskussion um eine Laufzeitverlängerung in der politischen Arena bestimmt" gewesen. Der TÜV Süd bescheinige, was der Auftraggeber wünsche. "Unabhängig vom Zustand und ohne Überprüfung der AKW steht für den TÜV das Ergebnis bereits fest", sagt Heinz Smital, Atomphysiker und Greenpeace-Atomexperte. Auch die offenkundig kurze Bearbeitungsdauer des TÜVs nähre den Verdacht, "dass hier ein Gefälligkeitsgutachten erstellt worden ist", so die Anwälte.
Umweltministerium: Sicherheit hat oberste Priorität
Derartige Vorwürfe weist das Umweltministerium "klar" zurück: "Der TÜV Süd ist einer der renommiertesten und mit Fragen der Kernkraft am besten vertrauten Experten", lautet die Antwort auf eine auf Anfrage von BR24. Die Sicherheit von Mensch und Umwelt habe beim Betrieb der bayerischen Kernkraftwerke "oberste Priorität".
"Bei der Bewertung zentraler und entscheidender Fragen sollte auf die bestmögliche Expertise zurückgegriffen werden. Es ist nicht ersichtlich, woher sich eine höhere Expertise einer Hamburger Rechtsanwaltskanzlei in der Kerntechnik ableitet", teilt das Ministerium mit.
Rechtliche Aspekte seien darüber hinaus in einem eigenen vom Bayerischen Umweltministerium beauftragten Gutachten betrachtet: "Um größtmögliche Transparenz herzustellen und der Öffentlichkeit einen unmittelbaren Eindruck zu ermöglichen, wurden die Gutachten bereits vor einigen Wochen im Internet veröffentlicht."
Aiwanger: "TÜV nicht so parteiisch wie Greenpeace"
Widerspruch kommt auch von Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger. Zwar sei er selbst kein "TÜV-Experte", aber "auf den TÜV Süd ist wohl überwiegend Verlass", sagte Aiwanger auf BR24 Anfrage: "Bezüglich der Objektivität glaub ich auf alle Fälle, dass der TÜV Süd nicht so parteiisch ist wie Greenpeace."
Der Minister bekräftigte seine Forderung, Atomkraftwerke länger am Netz zu lassen. "Wir brauchen jetzt diese Laufzeitverlängerung und müssen dann eben ein zweites, drittes oder fünftes Mal prüfen, dass da wirklich nichts passiert." Es sei wichtig, einen Sicherheitszustand herzustellen, der es verantwortbar mache, Atomkraftwerke länger laufen zu lassen. "Es wäre derzeit auch nicht verantwortbar, sie nicht ans Netz zu nehmen", so der Minister.
CSU stützte sich bei Forderung nach Laufzeitverlängerung auf Gutachten
Befürworter einer Laufzeitverlängerung - etwa die CSU - führen das Gutachten des TÜV Süd immer wieder als Beleg dafür an, dass das im Zuge des Atomausstiegs gesetzlich festgelegte Datum gekippt werden müsse.
Weil im Winter das Gas knapp zu werden droht, wird seit Wochen darüber diskutiert, die Kraftwerke länger laufen zu lassen. Die Technikhistorikerin Anna Wendland etwa hatte sich kürzlich im BR24-Interview besorgt gezeigt: "Es ist es eher nicht angebracht, mitten in der Energiekrise und mitten im Winter, 4.200 Megawatt Kernenergieleistung aus dem Netz zu nehmen."
Im deutschen Strommix macht Atomstrom aktuell noch etwa sieben Prozent aus. Das klinge zwar nach nicht sonderlich viel. Aber der Anteil könne über "Sein oder Nicht-Sein des Stromnetzes entscheiden", so Wendland. Auch Vertreter von SPD und Grünen hatten sich zuletzt gesprächsbereit gezeigt, zumindest was einen sogenannten Streckbetrieb angeht, also die weitere Nutzung der aktuell verwendeten Brennstäbe über den Jahreswechsel hinaus.
Fachleute halten Atom-Laufzeitverlängerung für nicht notwendig
Mit Blick auf die laufende Debatte um drohende Energieengpässe im Winter wegen eines Mangels an Erdgas aus Russland betonte dagegen der Greenpeace-Atomexperte Smital: "Die AKW sind ein Sicherheitsrisiko und keine Hilfe bei einem möglichen Gasmangel im kommenden Winter." Atomkraft sei zu schwerfällig, um Stromspitzen abzufedern. Statt auf mehr Kernkraft zu setzen, müsse es jetzt darum gehen, einen sparsamen Umgang mit erneuerbaren Energien zu erreichen.
Auch Claudia Kemfert, Energieexpertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, hält den Einsatz von Atomkraft in Deutschland für nicht notwendig. Der Anteil der Nuklearenergie am deutschen Energiemix mache derzeit gerade einmal knapp sechs Prozent aus. Diese Menge könne problemlos mit anderen Quellen ausgeglichen werden, erklärte die Ökonomin.
Auch Bundesregierung will an AKW-Ausstieg festhalten
Die Bundesministerien für Wirtschaft und Umwelt hatten sich in einer Stellungnahme im März 2022 bereits gegen einen Weiterbetrieb der drei letzten deutschen AKW Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 ausgesprochen. Eine längere Laufzeit bringe im kommenden Winter keine zusätzlichen Strommengen, stattdessen müssten die AKW umgehend die vorgeschriebene umfangreiche Sicherheitsüberprüfung durchlaufen, lautete damals die Begründung. Zudem sei ein Wiederanfahren der bereits stillgelegten AKW "gesetzlich nicht rechtssicher" und daher ausgeschlossen.
Inzwischen hat das Bundeswirtschaftsministerium weitere Untersuchungen zum Sinn und zu möglichen Risiken einer längeren Laufzeit von Atommeilern angekündigt. Die Ergebnisse sollen in den kommenden Wochen vorgelegt werden.
Artikel mit dpa-Material
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