Julia Ribbeck und Martin Puhl
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"Publikumsbeschimpfung": Wie geht es weiter?

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Schöner Sterben: Handkes "Publikumsbeschimpfung" in Eggenfelden

Ein Stück, in dem nichts passiert und die Schauspieler sich konsequent verweigern: Das war 1966 ein Riesenskandal. Inzwischen ist der große Wurf des ganz jungen späteren Nobelpreisträgers mehrheitsfähig - und an der Rott ausgesprochen unterhaltsam.

Über dieses Thema berichtet: Kulturleben am .

Das Theater sei ihm damals auf die Nerven gegangen, verriet Peter Handke einem Interviewer im Jahr 1967. Das ist seiner "Publikumsbeschimpfung" jederzeit anzumerken. Eine Streitschrift gegen bräsige Abonnenten, konventionelle Langeweile und der immer gleichen Beschwörung von Klassikern. Ja, das Theater hatte sich vor der Kulturrevolution von 1968 häuslich eingerichtet mit seinem bürgerlichen, NS-belasteten Publikum. Das wollte damals möglichst gediegen unterhalten sein, vor allem jedoch unaufgeregt. Insofern war es ein dankbares Ziel für die Wut von Handke.

Als das Stück 1966 im Theater am Turm in Frankfurt/Main uraufgeführt wurde, übrigens inszeniert von Claus Peymann, gab es folgerichtig mächtig Randale: "Das war damals so neu und revolutionär für die Zuschauer, dass ein Tumult entstanden ist", so Regisseur Johannes Lang im Gespräch mit dem BR. "Das Publikum hat gebrüllt 'aufhören' und 'alles Mist' und noch Schlimmeres und manche haben das Theater verlassen. Ein Zuschauer ist sogar auf die Bühne gestürmt und hat die anderen aufgefordert, dagegen aufzustehen."

Im niederbayerischen Eggenfelden waren die Zuschauerreihen zwar ausgesprochen dünn besetzt, aber diejenigen, die da waren, zeigten sich durchaus angetan von Handkes inzwischen etwas bejahrter General-Abrechnung. Als leicht entflammbarer Choleriker ist der Literaturnobelpreisträger von 2019 ja bis heute bekannt, nimmt gern die Medien auf die Hörner und gefällt sich als "Geist, der stets verneint". Insofern fällt es leicht, sich den Mann als jungen Berserker vorzustellen. Ob ihm allerdings die Inszenierung von Johannes Lang gefallen würde, das sei dahingestellt: Der 75-minütige Abend war nämlich ausgesprochen vergnüglich, und gespielt wurde geradezu lustvoll.

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Skeptische Gesichter

"Es geht ja um das Theater. Was ist das, wie sollte es in der heutigen Zeit auf die Bühne kommen? Diese Gedanken habe ich mir gemacht", so Johannes Lang: "Zwei der vier Darsteller wollen absolut nichts spielen, eine Schauspielerin jedoch will partout auftreten, ein weiterer Mitwirkender übernimmt die Perspektive des Publikums, daraus ergeben sich die Dialoge. Dadurch gibt es Reibung, es gibt aber auch eine Forderung an die Zuschauer, vielleicht sogar Überforderung. Wir wollen dem Zuschauer keine Meinung vorgeben." Dieses augenzwinkernde Regiekonzept überzeugte auf ganzer Linie. Keiner verließ vorzeitig den Saal - trotz eindeutiger Aufforderungen von der Bühne und (fast) völlig fehlenden Kulissen.

Eine Frau (Yvonne Köstler) und ein junger Mann (Martin Puhl) kommen mit herablassender, unwilliger Miene auf die Bühne und stellen klar, dass es hier weder etwas zu sehen, noch zu hören geben wird - jedenfalls nichts, das die Zuschauer nicht auch aus ihrem Alltag bereits kennen. Eine weitere Frau (Julia Ribbeck) will dagegen sofort mit dem Schauspielern loslegen, gestikuliert und wirft sich in Posen. Ihre besondere Spezialität: Sterbeszenen. Deshalb hängt sie erst an einem Kreuz, das den Tod des Theaters symbolisiert, dann meuchelt sie sich selbst mehrfach lautstark röchelnd, wie Louise Miller in Schillers "Kabale und Liebe" und Shakespeares Julia in einer Person. Kein Wunder, dass diese ungestüme Emotionalität bei den Mitspielern auf null Begeisterung trifft, beim Publikum dafür herzhafte Lacher auslöst.

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Ensemble in Aktion

Im Publikum sitzend meldet sich ein weiterer Mann (Norman Stehr) mit scharfen Einwürfen, warnt mal vor dem Händeschütteln, hofft auf zwischenmenschliche Höflichkeit und stellt ansonsten ernüchtert fest, dass tatsächlich nichts gespielt wird. Die Bühne ist hier nicht die Welt, aber die Welt ist ja schließlich auch keine Bühne, wie Peter Handke richtig beobachtete. Wunderbar, wie nah die Mitwirkenden den Zuschauern auf die Pelle rücken. Dabei bleibt der Saal natürlich allzeit hell erleuchtet, niemand kann sich dem Sekundenschlaf hingeben, wegdösen oder ungestraft auf die Armbanduhr linsen. Das Publikum muss wohl oder übel mitspielen, hellwach und teils verblüfft, teils befremdet.

Gedanke an Minimal Music liegt nahe

In der anschließenden Diskussion fragte jemand, ob es eigentlich schwer sei, so einen Text auswendig zu lernen. Die Schauspieler bestätigten das: Wer nur deklamiert, keine Story rüberbringen darf, der verirrt sich leicht in Handkes wutschnaubender Litanei, die an einen Exorzismus erinnert oder auch an einen weltlichen Rosenkranz, so häufig, wie sich die Floskeln wiederholen. Dabei verschieben sich die Wörter jeweils leicht, so dass der Gedanke nahe liegt, ein Komponist der Minimal Music könnte das alles mal vertonen, als aggressive Klangtapete.

Dank der hoch motivierten und bestens gelaunten Schauspieler-Riege insgesamt ein fesselnder Abend über die Sinnkrise des Theaters, die nun schon ein paar tausend Jahre andauert. Der junge Handke fühlte sich von der Behauptung angewidert, dass auf der Bühne das "richtige Leben" abgebildet werden könne. Was er wohl dazu sagt, dass nicht wenige Theater heutzutage eine Art "Fotorealismus" anstreben, also authentische Personen auf die Bühne stellen, seien es Migranten oder Arbeitslose, und mit ihnen "Dokus" erarbeiten? Wird in diesen Fällen wirklich "nicht gespielt"? Mal sehen, ob der Nobelpreisträger dazu irgendwann auch noch was zu sagen hat.

Wieder am 29. und 30. April 2023 am Theater an der Rott in Eggenfelden.

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