Symbolfoto: Reichsbürger-Pässe, Reichsadler und Reichsbürger-Nummernschild
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23.000 Reichsbürger gibt es in Deutschland – 5.200 sind es in Bayern.

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Analyse: Wie Reichsbürger ticken und wie gefährlich sie sind

Seit der Großrazzia gegen die mutmaßliche Terrorgruppe um Heinrich Prinz Reuß sind Reichsbürger wieder verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Doch wie ticken Reichsbürger und wo haben sie ihren Ursprung? Eine Analyse.

Herrmann R. sitzt an seinem Wohnzimmertisch in einer Altbauwohnung in der Nähe der Nürnberger Burg. Seinen Nachnamen will er nicht in den Medien lesen. Denn der Ende der 1920-er Jahre geborene Mann ist Reichsbürger. "Die Bundesrepublik Deutschland ist eine GmbH, ist offiziell kein Staat", erzählte er während des Interviews vor wenigen Jahren. Eine Aussage, die viele Reichsbürger so oder so ähnlich treffen. Sie behaupten, dass die Bundesrepublik Deutschland kein legitimer und souveräner Staat sei und propagieren das Fortbestehen des Deutschen Reiches.

Der Wohnzimmertisch des Reichsbürgers ist während des Interviews voller Kopien, Dokumente und Briefe. Rechnungen, auch von staatlichen Institutionen, stapeln sich. Herrmann R. glaubt, dass jeder Mensch in Deutschland, der einen Personalausweise besitzt, automatisch Personal der Firma BRD und somit kein Deutscher, sondern Ausländer sei. Eine weit verbreitete Verschwörungserzählung innerhalb der Reichsbürgerszene.

23.000 Reichsbürger in Deutschland – 5.200 in Bayern

Bundesweit zählt das Bundesinnenministerium etwa 23.000 Personen zur Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter, seit 2021 stieg diese Zahl um 8,7 Prozent. 2.300 Angehörige dieses Milieus werden demnach als gewaltorientiert eingestuft. Rund 400 Personen besitzen den Angaben zufolge legal Waffen. In Bayern zählt das Landesamt für Verfassungsschutz circa 5.200 Reichsbürger. Dem Geheimdienst zufolge sind drei Viertel davon Männer. Der Schwerpunkt der Szene liege im Alterssegment der 40- bis 69-Jährigen, wobei vor allem die 50 bis 59-Jährigen in der Statistik dominant seien. Sie organisieren sich in Gruppen wie dem "Vaterländischen Hilfsdienst", dem "Königreich Deutschland", dem " Volksstaat Bayern" oder den "Germaniten".

Nach BR-Recherchen in der Reichsbürgerszene zeichnet sich ein sehr kontroverses Bild des Milieus, denn Reichsbürger-Gruppen verfolgen nicht zwingend die gleichen Ziele. Eine einheitliche ideologische Ausrichtung gibt es zudem nicht. Reichsbürger-Gruppen arbeiten oft nicht zusammen, sehen sich eher als Konkurrenten. Gegen eine stärkere Vernetzung der Szene spricht auch, dass bei vielen Anhängern ein ideologischer Überbau fehlt und es zum Wetteifern um vermeintlich einflussreiche Posten und Funktionen in den ausgerufenen Fantasie-Staaten kommt. Zudem sind sich viele Reichsbürger über einen potenziellen Nachfolgestaat uneins.

Reichsbürger erst seit 2016 im Blickpunkt der Öffentlichkeit

Dass Reichsbürger so intensiv in den Blickpunkt der Behörden geraten, war nicht immer so. Bis 2016 wurden Reichsbürger von Teilen der Politik, Behörden, Gesellschaft und Medien oft verharmlost, als Spinner oder Querulanten abgetan. Vor wenigen Jahren wussten auch die bayerischen Behörden nicht, wie viele Reichsbürger es im Freistaat gibt. Das änderte sich schlagartig im Jahr 2016.

Im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt rief ein in finanzielle Schwierigkeiten geratener Reichsbürger seinen eigenen Fantasiestaat "Ur" aus und drohte im Zwangsversteigerungsverfahren seines Hauses: Wer seinen Staat betrete, müsse mit Selbstverteidigung rechnen – Waffengewalt eingeschlossen. Im August 2016 rückte die Polizei samt SEK an, um die Zwangsräumung des Grundstücks durch den Gerichtsvollzieher zu unterstützen. Die versammelten Reichsbürger griffen die Beamten an, es kam zum Schusswechsel. Ein Polizist wurde dabei am Hals getroffen – ein Reichsbürger war lebensgefährlich verletzt worden.

Nur wenige Monate später, im Oktober 2016, rückte das SEK Nordbayern im fränkischen Georgensgmünd zu einem Einsatz an. Ein Reichsbürger sollte seine Waffen abgeben, da er bei den Behörden als unzuverlässig eingestuft wurde. Während der Razzia schoss der Jäger auf die Beamten, tötete einen 29-jährigen SEK-Polizisten und verletzte zwei weitere Einsatzkräfte. Die Tat löste bundesweit Bestürzung aus und warf ein Schlaglicht auf die Reichsbürger-Bewegung in ganz Deutschland.

Polizisten, Staatsanwälte, Richter im Visier der Reichsideologen

Mit der Razzia gegen die mutmaßliche Terrorgruppe um Heinrich Prinz Reuß gerieten Reichsbürger wieder vermehrt in die Schlagzeilen. Dass von Anhängern der Szene auch weiter eine große Gefahr ausgeht, zeigt der Vorfall bei einer erneuten Razzia vor wenigen Tagen. In Reutlingen in Baden-Württemberg eskalierte die Situation: Ein SEK-Beamter wurde angeschossen und leicht verletzt. Als Vertreter des verhassten Staates stehen vor allem Polizisten, Steuerfahnder, Gerichtsvollzieher, Richter und Staatsanwälte im Fokus der Reichsideologen. In der Vergangenheit wurden Richter und Gerichtsvollzieher von selbsternannten Reichspolizisten festgenommen, Steckbriefe von Behördenmitarbeitern und Polizeibeamten im Internet veröffentlicht.

In Bayern beobachtet der Verfassungsschutz derzeit keine signifikante Radikalisierung der Szene. Bei Einzelpersonen sei jedoch eine Radikalisierung feststellbar. Das zeigen auch BR-Recherchen. Akteure der Szene versuchten demnach insbesondere während der Hochzeiten der Corona-Pandemie im Querdenken-Milieu eine staatsfeindliche Stimmung anzuheizen. Beispielsweise trat ein bayerischer Reichsbürger unter mehreren Pseudonymen in verschiedenen Querdenken-Gruppen auf und forderte in Sprachnachrichten einen Volksaufstand.

Diese Vernetzung über ideologische Grenzen hinweg bewerten verschiedene polizeiliche und nachrichtendienstliche Behörden als problematisch, erfuhr der BR aus Sicherheitskreisen. Das zeige sich auch bei der mutmaßlichen Terrorgruppe "Patriotische Union". In der Gruppe um Heinrich Prinz Reuß sammelten sich nicht nur Reichsbürger, sondern auch Anhänger der Querdenken-Szene und Verschwörungsideologen. Als "eine hochexplosive Mischung" bezeichnete ein Ermittler diese Gemengelage im Gespräch mit dem BR.

Ursprung der Reichsbürger-Ideologie in der rechtsextremen Szene

Dass Reichsbürger dabei oft mit Rechtsextremismus assoziiert werden, hat den Hintergrund, dass die Ideologie der Reichsbürger ihren Ursprung in der extremen Rechten hat. "Reichsbürger wurzeln vom Denken her im Rechtsradikalismus. Ihre Ideologien sind die Domäne der Rechten", hielt ein Verfassungsschützer schon vor Jahren fest.

Der Rechtsanwalt, NPD-Politiker und spätere Rechtsterrorist Manfred Roeder war einer der ersten, der die Fortexistenz des Deutschen Reiches propagierte. Auch der frühere Linksterrorist und heutige Rechtsextremist Horst Mahler gilt als Vordenker in der Reichsbürger-Szene. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich innerhalb der bayerischen Neonazi-Szene Reichsbürger finden. So unter anderem ein führender Akteur aus Oberfranken, der früher in den verbotenen Kameradschaften "Fränkische Aktionsfront" und "Freies Netz Süd" aktiv war und sich heute im Umfeld der Partei "Der dritte Weg" bewegt. In einer Willenserklärung an eine Kommunalverwaltung, die dem Bayerischen Rundfunk vorliegt, schrieb der Mann, dass er sich "ausdrücklich und ausschließlich zur preußischen Staatsangehörigkeit" bekenne. Zudem akzeptiere er als "Deutscher mit Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat" nur die "kaiserlicher Verfassung aus dem Jahr 1871 und die preußische Verfassung aus dem Jahr 1848." Zudem wollte er sich durch das Schreiben den rechtsstaatlichen Gesetzen entziehen, in dem er schrieb: "Ferner gilt für meine Person die staatliche Gesetzgebung vor dem 1. Januar 1914."

Ein aus Unterfranken stammender NPD-Kader leitete zusammen mit Horst Mahler das Reichsbürger-Portal "Deutsches Kolleg". Bereits 1999 veröffentlichte die Gruppe einen "Reichsverfassungsentwurf". Darin heißt es: "Das Deutsche Volk anerkennt die Verschiedenheit aller Völker und Menschen. Es achtet das Recht eines jeden Volkes, die eigene Abstammung, Rasse und Sprache sowie seine eigenen Anschauungen über Religion, Politik und Wirtschaft zu bevorzugen und das Fremde zu benachteiligen. [...] Die politische Verfassung Deutschlands ist die Deutsche Volksherrschaft. Die Deutsche Volksherrschaft darf nicht Demokratie genannt werden."

Verharmlosung von Reichsbürgern hält an

Doch es gibt auch Reichsbürger, die sich nicht als Rechtsextreme sehen. So wie der Nürnberger Herrmann R., der vor allem mit Neonazis nichts zu tun haben will. Dennoch spricht der Mann, der die 90 Jahre überschritten hat, vielen Deutschen die Staatsangehörigkeit ab, bezeichnet auch gewählte Parlamentarier als Ausländer. Wie viele Reichsbürger macht R. das am sogenannten Staatsangehörigkeitsausweis fest, der auch "gelber Schein" genannt wird. "Nur jemand, der einen gelben Schein hat, ist Deutscher", meint er. Diesen aber könne man nur beantragen, wenn man nachweisen könne, "dass seine Vorfahren vor 1914 in Deutschland geboren sind." Der Reichsbürger bedient sich damit klarer rechtsextremer Ideologiefragmente und äußert sich verfassungsfeindlich, denn Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

Vorschnell könnte der Eindruck entstehen, bei Reichsbürgern handele es sich um Verrückte, um Menschen, die unter einer Wahnvorstellung leiden. Das geht oft mit einer Entpolitisierung des Milieus einher. Auch die Verharmlosung der Szene endete nach den tödlichen Schüssen von Georgensgmünd nicht. Nach der Razzia gegen die mutmaßlichen Terroristen der "Patriotischen Union" wurde diese – wegen des Alters mancher Beschuldigter – als "Rollator-Gruppe" verniedlicht. Und das nicht nur von den geneigten politischen Rändern.

Absperrung des Tatorts in Reutlingen / Baden-Württemberg
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Absperrung des Tatorts in Reutlingen / Baden-Württemberg

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