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Türkische Gräueltaten an Armeniern Die schwere Last der G-Frage

Vor 100 Jahren begann die massenhafte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern durch Türken. Die Ereignisse belasten seit jeher das Verhältnis der beiden Länder - vor allem wegen der Frage, ob es ein Genozid war. Aber auch Deutschland spielte lange eine unrühmliche Rolle.

Von: Ernst Eisenbichler

Stand: 02.06.2016 | Archiv

Armenische Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich 1915 in Syrien | Bild: dpa-Bildfunk

Auf einem Hügel im Zentrum der armenischen Hauptstadt Eriwan steht ein 44 Meter hoher Obelisk. Er symbolisiert die vielen armenischen Toten der Gräueltaten, die die Türken 1915/16 veranstalteten. Für die Armenier ist das Mahnmal eine Gedenkstätte für Völkermord.

Im landläufigen Sprachgebrauch des Nachbarlandes Türkei werden die Ereignisse seit jeher lediglich mit "Armenier-Problem" umschrieben. Es kommt zwar zum Beispiel im Militärmuseum von Istanbul vor, dort hängen unter anderem Fotos von bewaffneten Armeniern. Der Guide erzählt Besuchern, jene hätten "Türken abgeschlachtet". Armenische Opfer in der Ausstellung? Fehlanzeige. Unterschiedlicher können die Versionen nicht sein. Was passierte damals? Im muslimisch geprägten Osmanischen Reich lebten in Gebieten der heutigen Türkei bis zu 2,5 Millionen Armenier. Schon 1896 und 1909 wurden sie zum Teil verfolgt. Die Spannungen nahmen zu, als sich 1908 die sogenannten Jungtürken an die Macht putschten. Sie setzten stark auf die türkisch-nationalistische Karte und versuchten, das in seinen letzten Zügen liegende Osmanische Reich ethnisch und religiös zu homogenisieren - schlechte Karten für die christliche Minderheit der Armenier.

Armenier im Osmanischen Reich (Hauptsiedlungsgebiete)

Der Auftakt zu den zwei Jahre sich hinziehenden Gräueltaten war genau vor 100 Jahren, am 24. April 1915. Damals wurden in Konstantinopel (heute Istanbul) mehrere Hundert prominente Intellektuelle - die armenische Führungselite - festgenommen und deportiert. In der Folge wurden Armenier nach eigener Lesart systematisch vertrieben und vernichtet - wie viele, steht nicht fest: mehrere Hunderttausend oder - nach armenischen Schätzungen - bis zu 1,5 Millionen.

Türkei bedauert, lehnt aber "Genozid"-Begriff ab

Millionenfacher Mord? Für die Armenier Grund genug, von "Genozid" zu sprechen. Die Türkei, Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Imperiums, leugnet zwar nicht Vertreibung und Sterben von Armeniern und spricht von Deportationen als Sicherheitsmaßnahme gegen eine "verräterische Minderheit". Ankara geht aber von deutlich weniger Opfern aus, hält die armenischen Zahlen für übertrieben. Offiziell hat die Türkei inzwischen ihr Bedauern über das Leid der "unschuldigen osmanischen Armenier" ausgedrückt und sich für eine "Aufarbeitung" ausgesprochen. Aber Ankara weist Berichte über Todesmärsche durch die syrische Wüste oder behördlich angeordnete Massaker zurück. Vor allem wehrt man sich nach wie vor vehement gegen den Begriff "Völkermord". Er hat keinen Platz bei einem nationalistisch ausgerichteten türkischen Staatspräsidenten wie Erdogan. Möglicherweise spielt auch die Furcht vor Reparationsforderungen eine Rolle.

"Für die Türkei ist es niemals möglich, eine solche Sünde, eine solche Schuld anzuerkennen."

Recep Tayyip Erdogan, türkischer Staatspräsident, im April 2015

Deutsches Kaiserreich schaute zu - Bundesrepublik zögert

Armenien fordert seit Jahren, dass Ankara die Gräueltaten als "Genozid" anerkennt, wie es zum Beispiel das Europaparlament, Staaten wie Frankreich, Schweiz, Niederlande oder Papst Franziskus bereits getan haben. Und Deutschland? Das Kaiserreich hatte während des Ersten Weltkriegs das Osmanische Reich an seiner Seite und ließ seinen Verbündeten gewähren. So mancher Armenier wirft dem Kaiserreich Mittäterschaft vor.

"Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber die Armenier zu Grunde gehen oder nicht."

Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg

Die Bundesrepublik vermied es stets, offiziell von "Genozid" zu sprechen. Man wollte den NATO-Partner Türkei nicht verärgern. Doch Rücksichten solcher Art scheinen inzwischen bei manchem Politiker von Union und SPD zu bröckeln. Schließlich kommen die EU-Verhandlungen mit der Türkei alles andere als voran, im Gegenteil: Erdogan wendet sich derzeit eher Russland zu.

Gauck: "Völkermord"

Mit Bundespräsident Joachim Gauck sprach erstmals ein bundesdeutsches Staatsoberhaupt von "Völkermord" im Zusammenhang mit den Ereignissen 1915/16. Zum deren 100. Jahrestag gebrauchte Gauck bei einem ökumenischen Gottesdienst diesen Begriff.

"Das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist."

Bundespräsident Joachim Gauck

Stichwort "Genozid"

Der Begriff hat griechische und lateinische Wurzeln: Das griechische "genos" bedeutet: Herkunft, Abstammung, Geschlecht, Volk, Rasse. Das lateinische "caedere" kann mit "morden" übersetzt werden. Gemeint ist die vorsätzliche Ermordung, Ausrottung oder anderweitige Vernichtung von Volksgruppen aufgrund ihrer rassischen, ethnischen oder sozialen Merkmale, ihrer Nationalität oder religiösen Überzeugungen. In den vergangenen Jahrzehnten gab es Genozide in Ruanda, dem ehemaligen Jugoslawien und in Kambordscha. Auch das Vorgehen der europäischen Kolonialstaaten gegen indigene Bevölkerungen wird als Völkermord bezeichnet.

Unter dem Eindruck des millionenfachen Mordes an Juden durch die Nazis verabschiedeten die Vereinten Nationen 1948 die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords. Darin verpflichten sich alle Vertragsstaaten, Maßnahmen zur Verhinderung und Bestrafung von Völkermord zu ergreifen und in nationales Recht zu übernehmen. Das Übereinkommen erklärt Völkermord selbst, den Versuch, die Verschwörung oder Anstiftung zur Begehung von Völkermord und die Teilnahme am Völkermord für strafbar. Die Konvention sieht aber auch die Schaffung eines internationalen Tribunals vor. Kommt ein Staat der Schutzverantwortung gegenüber seinen Bürgern nicht nach, kann der UN-Sicherheitsrat militärisches Eingreifen auf fremdem Staatsgebiet erlauben. Ob ein Eingreifen auch ohne Zustimmung des Sicherheitsrates zulässig ist, ist umstritten.

Die Vorstellungen eines Völkerstrafrechts fanden eine erste Anwendung bei den Kriegsverbrechertribunalen von Nürnberg und Tokio 1945. Der Kalte Krieg blockierte eine Weiterentwicklung. Erst nach dessen Ende kam es 1993 zu der Schaffung eines Ad-hoc-Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien. 1995 wurde auch für Ruanda ein internationaler Strafgerichtshof geschaffen. 2002 nahm ein ständiger Internationaler Strafgerichtshof für Völkerrechtsverbrechen in Den Haag die Arbeit auf.


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