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ARD-Terrorismusexperte Holger Schmidt "Wir wissen wenig über den Fahrer!"

Nach dem Anschlag von Nizza sind nach wie vor viele Fragen offen - vor allem über den 31 Jahre alten Täter herrscht Unklarheit. Was hat ihn motiviert, warum ist er den Terrorfahndern noch nie aufgefallen? ARD-Terrorexperte Holger Schmidt warnt vor vorschnellen Schlüssen.

Stand: 15.07.2016

Holger Schmidt | Bild: SWR

Kritiker in Frankreich verlangen eine Geheimdienstreform und sagen, es seien noch nicht alle Konsequenzen aus den November-Anschlägen gezogen worden. Haben sie recht?

Diese Kritik ist natürlich in Verbindung zu bringen mit dem, was wir über den Fahrer des Lkws von gestern Abend wissen. Da wäre ich vorsichtig, diese Konsequenzen unmittelbar zu ziehen. Dass die französischen, die deutschen und die europäischen Sicherheitsbehörden insgesamt weiterer Reformen, einer besseren Kommunikation und eines besseren Austauschs bedürfen - das steht für mich außer Frage.

Aber in diesen Stunden, wo wir fassungslos nach Nizza schauen, scheint es mir wichtiger zu sein, wirklich sehr ruhig in der Analyse des schrecklichen Abends zu sein. Und da muss man sagen: Es gibt zwar einige Anhaltspunkte für einen terroristischen Anschlag, die ich auch gar nicht kleinreden möchte. Aber es gibt genauso viele Fragezeichen.

Was sind das für Fragezeichen?

Wir wissen wenig über den Fahrer. Die französischen Behörden sagen, sie wissen, wer der Mann ist. Dass er 31 Jahre alt ist, dass er wegen mehrerer kleinkrimineller Dinge aufgefallen ist - aber dass er niemals wegen eines weltanschaulichen, politischen oder terroristischen Zusammenhangs belangt wurde. Und das ist natürlich sehr wenig, um sich festzulegen, dass er die Fahrt aus terroristischen Absichten durchgeführt hat.

Wir wissen, dass islamistische Terroristen seit Jahren über Anschläge mit Fahrzeugen reden. Das spricht für einen terroristischen Anschlag. Aber: Wenn wir dahin kommen, jedes Ereignis sofort als terroristischen Anschlag zu bewerten, dann gehen wir den Terroristen mit ihrer Ideologie auf den Leim. Weil wir ein Gefühl der Hysterie und der Unsicherheit bekommen - genau das wollen die Terroristen auch erreichen.

Aber hat es nicht die französische Regierung so formuliert, auch Präsident Hollande?

Ich finde, man kann aus diesen Sätzen beides rauslesen. Es gibt so Sätze wie "Das ist eine zutiefst terroristische Tat". Dem würde kein vernünftiger Mensch widersprechen. Wenn ein Lkw in eine Menschenmenge rast und es so entsetzlich viele Tote gibt, dann versagen normale Vokabeln; dann wird man sehr schnell zum Begriff Terror kommen. Aber ob das auch bedeutet, dass alles Ideologische, Politische und Planbare, was mit dem Wort "Terrorismus" auch verbunden ist, ob das damit zusammenhängt, müssen die Ermittlungen zeigen. Vielleicht wissen wir nach der Durchsuchung der Wohnung des Mannes mehr.

Ich will die Möglichkeit gar nicht kleinreden. Aber ich glaube, dass gerade in so einer entsetzlichen Situation eine ruhige und faktenbasierte Bewertung besser ist als sich sofort festzulegen. Und ich darf daran erinnern, dass man auch bei den Anschlägen von Anders Breivik anfangs von islamistischen Terroristen ausgegangen ist.

Warum ist denn eigentlich schon wieder Frankreich betroffen?

Wenn wir uns auf einen islamistischen Anschlag festlegen, dann muss man sagen, dass Frankreich im Verhältnis zur Bevölkerung überdimensional viele gewaltbereite Menschen im Land hat. Das hat politische und historische Gründe. Und dann muss man schauen: Durch was haben sie sich radikalisieren lassen? Da können Vorbildtaten im relativen Umfeld - also auch im eigenen Land - ein Auslöser sein. (Interview: Tim Heller; B5 aktuell/Protokoll: Florian Haas)


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