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Faktencheck zur Flüchtlingskrise Die Wahrheit hinter den Flüchtlingsmythen

Flüchtlinge kriegen "zu viel Geld vom Staat", sie "nehmen uns die Arbeitsplätze weg". Das und Vieles mehr kursiert an Stammtischen, in Leserbriefen und in den sozialen Netzwerken. Doch was ist dran an diesen Behauptungen? Die Fakten:

Von: Eva Riedmann & Jasmin Körber

Stand: 29.10.2015 | Archiv

OMG - Flüchtlinge! Flüchtlingsmythen widerlegt | Bild: BR

Sie bekommen vom Staat das Geld hinterhergeschmissen, nehmen braven deutschen Bürgern gleichzeitig aber die Arbeitsplätze weg. Die Wohnungen nehmen sie uns auch weg, und überhaupt können wir ja auch nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Ganz schön haarsträubend, was in letzter Zeit so in den sozialen Netzwerken an "Flüchtlingsfacts" kursiert. Wir haben die fünf beliebtesten Mythen einer Überprüfung unterzogen.

Mythos 1: Asylbewerber bekommen mehr Geld als Hartz IV-Empfänger

Stimmt nicht. Ein Beispiel: Ein junger, alleinstehender Mann aus Syrien kommt in eine deutsche Erstaufnahmeeinrichtung. 216 Euro bekommt er vom Staat für die Deckung des "monatlichen Bedarfs", allerdings nicht bar auf die Hand, sondern in Form von Unterkunft, Kleidung und Verpflegung. Ausbezahlt werden ihm 143 Euro pro Monat - umgangssprachlich wird das auch Taschengeld genannt. Ein beschönigender Begriff, findet Günter Burkhardt von Pro Asyl. Denn von dem Geld müssen Fahrkarten bezahlt werden, um zum Amt oder zum Arzt zu kommen. Ebenso Telefon- und Internetkosten, um mit der Familie in Kontakt zu bleiben. Verlässt ein Asylbewerber nach drei Monaten die Erstaufnahmeeinrichtung, unterstützt ihn der Staat mit 359 Euro pro Monat. Ein Hartz-IV-Empfänger bekommt 40 Euro mehr.

Mythos 2: Es kommen fast nur Männer

Stimmt sogar. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge waren 2014 zwei Drittel aller Asylbewerber, die nach Deutschland gekommen sind, Männer. Wer aber daraus schließt, dass die Situation in den Heimatländern so schlimm nicht sein kann, wenn Flüchtlinge ihre Familie zurücklassen, liegt falsch. Weltweit sind dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen zufolge genauso viele Frauen wie Männer auf der Flucht. Meist fliehen ganze Familie aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak und retten sich zunächst in ein Flüchtlingslager über die Grenze. Nach Deutschland weitergeschickt werden dann aber vor allem Männer. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl spricht von "Asyl-Darwinismus" - nur die Stärksten schaffen es ans Ziel. "Der Weg in Schlauchbooten über das Mittelmeer ist extrem gefährlich. Deshalb wird innerhalb der Familie oft entschieden: Der Mann nimmt das Risiko auf sich und hofft dann, Frau und Kinder auf legalem Weg zu holen, wenn er als Flüchtling anerkannt ist", sagt der Geschäftsführer von Pro Asyl Günter Burkhardt.

Mythos 3: Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen

Tun wir auch nicht. Laut Pro Asyl bleiben 80 Prozent der Flüchtlinge in der Nähe ihrer Heimat. Sie hoffen, bald in ihr Land zurückzukehren oder können sich den weiteren Fluchtweg nicht leisten. Die Türkei ist deshalb Flüchtlingsland Nummer eins - laut UNO-Flüchtlingshilfswerk hat das Land 2014 1,6 Millionen Menschen aufgenommen. Gefolgt von Pakistan und dem Libanon. Ein Drittel aller Flüchtlinge, die es nach Europa schaffen, kommt nach Deutschland. Dort werden innerhalb der EU die meisten Asylanträge gestellt. Setzt man die Zahl der Flüchtlinge aber in Relation zur Bevölkerungsgröße, rutscht Deutschland auf Platz sechs. Ganz oben auf der Liste: Schweden.

Mythos 4: Die Flüchtlinge nehmen uns die Arbeitsplätze weg

Stimmt nicht. Laut Professor Herbert Brücker, beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung für das Thema Migration zuständig, gibt es keinen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit. In den ersten drei Monaten in Deutschland darf ein Asylbewerber sowieso nicht arbeiten. Während der Asylantrag läuft, bekommen nur rund zehn Prozent der Flüchtlinge einen Job - das Risiko, dass zum Beispiel der Auszubildende wieder in sein Heimatland zurückgeschickt wird, ist vielen Arbeitgebern zu groß. Außerdem gilt das "Vorrangsprinzip". Das heißt: Gibt es eine freie Stelle, haben zuerst alle Deutschen ein Anrecht. Danach EU-Bürger, Bürger aus dem Europäischen Wirtschaftsraum, Schweizer und erst dann Flüchtlinge mit Arbeitserlaubnis.

Ein weiterer Grund, warum Zuwanderer und Einheimische am Arbeitsmarkt nicht konkurrieren: "Deutsche und Migranten arbeiten im Regelfall in verschiedenen Segmenten", sagt Brücker. So seien Migranten beispielsweise häufig im Handel, der Gastronomie oder im Bauwesen tätig. "Durch das zusätzliche Angebot an Arbeitskräften entstehen außerdem völlig neue Dienstleistungen und Produkte, die wir sonst in unserer Volkswirtschaft nicht hätten." In der häuslichen Pflege oder der Landwirtschaft sind wir schon heute auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Ohne Saisonarbeiter aus Osteuropa gäbe es in Deutschland zum Beispiel keinen Spargel.

Mythos 5: Wir haben gar nicht genug Wohnungen für so viele Flüchtlinge

Jein. Ob Flüchtlinge überhaupt Anspruch auf eine eigene Wohnung haben, kommt auf ihren Flüchtlingsstatus an: Asylsuchende und Geduldete werden meistens in Lagern und Wohnheimen untergebracht. Letztendlich liegt das aber im Ermessensspielraum der jeweiligen Bundesländer. Sie können Asylbewerber auch in Privatwohnungen unterbringen. Berlin macht das zum Beispiel schon.

Sind die Flüchtlinge schon als solche anerkannt, haben sie auch das Recht darauf, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Sie müssen sich aber wie jeder andere Wohnungssuchende selbst eine Bleibe suchen. Weil ihre finanziellen Mittel meist begrenzt sind (siehe oben), haben Flüchtlinge oft nur Chancen, im sozialen Wohnungsbau fündig zu werden. Den haben die Länder und Kommunen in den letzten Jahren tatsächlich zurückgefahren, Bayern hat aber zum Beispiel schon angekündigt, die Fördermittel für sozialen Wohnungsbau wieder anzuheben.


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