NSU-Prozess


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390. Verhandlungstag, 22.11.2017 "Feige" Zschäpe

Die Auftritte der Angehörigen der Mordopfer gehörten von Anfang an zu den beeindruckendsten Momenten des NSU-Prozesses. Heute war es wieder so weit. Gamze Kubaşık, deren Vater Mehmet Kubaşık von den Neonazi-Terroristen ermordet worden ist, ergriff das Wort.

Von: Thies Marsen

Stand: 22.11.2017 | Archiv

Hände und eine Computer-Tastatur (Symbolbild) | Bild: picture-alliance/dpa

22 November

Mittwoch, 22. November 2017

Wir Gerichtsreporter sollen möglichst Neutralität waren, sollen weitgehend wertfrei berichten von dem, was im NSU-Prozess vor sich geht. Das ist schwer genug bei einem Verfahren, bei dem es um eine menschenverachtende Mordtruppe geht, deren Ziel es war, unsere pluralistische Gesellschaft zu zerstören und Menschen, die nicht in ihr krudes Weltbild passen, einfach hinzurichten. Noch schwerer ist es, Distanz zu wahren, wenn die Opfer sprechen, diejenigen, die selbst durch die Taten des NSU verletzt worden sind oder die engste Angehörige durch die Terroristen verloren haben. Schon der Auftritt der Witwe Elif Kubaşık gestern trieb selbst manch altgedientem Reporter auf der Zuhörertribüne die Tränen in die Augen. Und so war es auch heute als ihre Tochter Gamze sich an die Richter, an die Zuhörer und auch an die Angeklagten wandte.

Gamze Kubaşık war 20 Jahre alt, als sie am 4. April 2006 zur Mittagszeit an dem kleinen Kiosk ankam, den ihre Familie im Norden Dortmunds betrieb und wo sie ihrem Vater nachmittags, wie so oft, bei der Arbeit beistehen wollte. Doch empfangen wurde sich nicht von ihrem heißgeliebten Vater, sondern von einer Menschentraube. Polizisten versperrten ihr den Weg, erklärten ihr, der Vater sei verletzt. Erst später erfuhr sie, dass Mehmet Kubaşık da bereits tot war, niedergestreckt von vier Kugeln, zwei davon in den Kopf. Ermordet vom NSU, dessen Kerntrio, daran gibt es längst keine Zweifel mehr, aus Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bestand.

"Warum steht Zschäpe nicht zu ihren Taten?"

Nun steht die Tochter des Ermordeten der Terroristin Zschäpe gegenüber, die bislang jede eigene Schuld an den Taten des NSU abgestritten hat und zu deren Verhalten vor Gericht Gamze Kubaşık vor allem ein Wort einfällt: "Feige". Sie habe keine Zweifel, dass Zschäpe über alles Bescheid wusste, dass sie alles billigte, betont Kubaşık. "Ich verstehe nicht, warum sie dann nicht zu ihren Taten steht. Warum stellt sie sich nicht wenigstens hier hin und sagt es?"

Und trotzdem wendet sich Gamze Kubaşık schließlich direkt an die Hauptangeklagte und gibt ihr ein Versprechen: Sollte Zschäpe doch noch irgendwann bereuen und reinen Tisch machen, sollte sie doch noch irgendwann die Unterstützer des NSU enttarnen und die dringendste Frage der Überlebenden beantworten: Warum? Warum mein Vater? Warum mein Mann? Warum mein Bruder? Sollte sich Zschäpe doch noch dazu durchringen, irgendwann während der langen Jahre Gefängnis, die vor ihr liegen, dann, so Kubaşık, werde sie ihr verzeihen, dann werde sie sich sogar dafür einsetzen, dass sie nicht bis an ihr Lebensende hinter Gittern bleiben muss, sondern vorzeitig entlassen wird.

"Sie haben Ihr Versprechen gebrochen"

Was für eine Geste! Die aber zugleich von der Verzweiflung der Hinterbliebenen zeugt über das Verhalten der staatlichen Behörden. Polizei, Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaften haben eben nicht - wie von Kanzlerin Merkel persönlich versprochen - alles getan, um den NSU-Komplex aufzuklären. Sie haben erst dabei geholfen, die Strukturen zu schaffen, aus denen der NSU entstanden ist, haben dann aufgrund ihrer eigenen rassistischen Voreingenommenheit Hinweise auf rechtsextreme Mörder beiseite geschoben. Und als dann feststand, dass Neonazis die Täter waren und sich das ganze Ausmaß staatlichen Versagens abzeichnete, haben die Behörden vertuscht und abgestritten. Auch der Prozess hat, nach Ansicht der Nebenkläger, viele Fragen nicht aufklären können bzw. - was noch schlimmer ist: gar nicht erst gestellt.

Umso beeindruckender, dass Gamze Kubaşık überhaupt nach München gekommen ist und das Wort ergriffen hat in einem Prozess, der sie enttäuscht hat. "Sie haben Ihr Versprechen gebrochen", sagt sie zum Abschluss. Ein Satz, der auf den Staat abzielt, der aber auch den Gerichtsreporter trifft. Haben auch wir Medien genug getan, um den NSU-Komplex aufzuklären, um den Hinterbliebenen die Wahrheit zu verschaffen, nach der sie verlangen? Haben wir als Gesellschaft genug getan, um denjenigen, die ihre Liebsten verloren haben, wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen?


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