NSU-Prozess


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Reportertagebuch, 362. Tag, 16.5.2017 Zahlen, Paragrafen, Fachchinesisch

Kennen Sie den ICD 10? Oder HCR 20? Oder sagt Ihnen FACS etwas? Nein? Kein Grund zur Beunruhigung. Dem Gerichtsreporter ging es genauso, jedenfalls bis zum heutigen 362. Verhandlungstag im NSU-Prozess, an dem mit diesen und anderen Kürzeln geradezu um sich geworfen wurde.

Von: Thies Marsen

Stand: 16.05.2017 | Archiv

Verhandlungssaal NSU-Prozess Oberlandesgericht München | Bild: BR/Ernst Eisenbichler

16 Mai

Dienstag, 16. Mai 2017

Und das über Stunden. Zwei Erkenntnisse blieben dabei vor allem hängen: Nicht nur Juristen lieben es, mit Zahlen, Paragrafen und Expertenvokabular zu protzen, sondern auch Mediziner. Und: Der NSU-Prozess ist auch eine Schule fürs Leben.

Universitäre Prozesshilfe für Beate Zschäpe

Im Zentrum des heutigen Prozesstages stand Professor Pedro Faustmann. Für die Verteidiger der Hauptangeklagten hat Faustmann ein Gutachten erstellt und zwar, wie er betont, im Rahmen seines Lehr- und Forschungsauftrags an der Ruhruniversität in Bochum – kostenlose Prozesshilfe also für Beate Zschäpe.

Gutachter Henning Saß

Faustmanns Auftrag bestand vor allem darin, das offizielle Gutachten des vom Gericht bestellten forensisch-psychiatrischen Sachverständigen Professor Henning Saß zu widerlegen. Das fällt nämlich ziemlich ungünstig für Zschäpe aus: Sie sei voll schuldfähig, zudem manipulativ, spalte ihre eigene Verantwortung für die Taten des NSU ab, sei rückfallgefährdet etc.

Faustmann: Offizielles Gutachten "unwissenschaftlich"

Gegengutachter Faustmann hat die Ausführungen von Saß nun "methodenkritisch" unter die Lupe genommen, d.h. er hat sie in großen Teilen als "unwissenschaftlich" verworfen.

Inwiefern die Argumentation von Prof. Faustmann schlüssig ist, vermag der Gerichtsreporter (von der Ausbildung her nur Politikwissenschaftler) nicht zu entscheiden. Schon das im feinsten Fachchinesisch gehaltene Gegengutachten, das vor Wochen im Prozess verlesen wurde, war für ihn weitgehend unverständlich, und das galt auch für weite Teile der heutigen Befragung des Sachverständigen Faustmann.

Richter löchtert Gutachter mit Detailfragen

Und vielen Prozessbeteiligten schien es da ganz ähnlich zu gehen. Einzig der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hatte seine Hausaufgaben gemacht und löcherte den Gutachter mit detail- und kenntnisreichen Fragen. Da wurden dann ausführlich Fachbegriffe erörtert wie Resilienz, Persönlichkeitsakzentuierung, Operationalisierung oder eben auch ICD 10, HCR 20 bzw. FACS.

Übrigens ist ICD 10 die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten, bei HCR 20 handelt es sich um ein Verfahren, mit der Vorhersagen über Gewalttaten gemacht werden können. Und FACS ist die Abkürzung für Facial Action Coding System – eine wissenschaftliche Methode, mit deren Hilfe man aus der Mimik einer Person auf deren psychischen Zustand schließen kann.

Wer sich heute auf der Zuschauertribüne im Saal A 101 des Münchner Justizzentrums umblickte, der konnte freilich auch ohne psychologische Ausbildung aus den Gesichtern so Einiges ablesen: Zum Beispiel Erstaunen, Unverständnis und ein wenig Ermüdung.


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