NSU-Prozess


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180. Verhandlungstag, 29.01.2015 Der Datenordner "Killer"

Am 180. Verhandlungstag im NSU-Verfahren vor dem Münchner Oberlandesgericht ging es noch einmal um Ziele, die von den Rechtsterroristen ins Visier genommen worden waren. Konkrete Anhaltspunkte lieferte dabei eine Liste, die nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt aufgefunden worden war. Zur Sprache aber kamen heute auch die Praktiken, die Anwälte offensichllich angewandt hatten, um Betroffene des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße als Nebenkläger und damit für sich als Mandanten zu gewinnen.

Von: Oliver Bendixen

Stand: 29.01.2015 | Archiv

NSU Prozess Gerichtsprotokoll | Bild: BR

Eine Kindertagesstätte für Migrantenfamilien, ein türkischer Kulturverein, eine Diakoniestation, Parteibüros, kirchliche Einrichtungen und die Privatanschriften von Politikern samt Stadtplänen – dazu Kirchen, Moscheen, Synagogen und Asylbewerberheime -– über 180 mögliche Anschlagszeile alleine in Köln entdeckten Ermittler des Bundeskriminalamtes auf einer Daten-CD, die im Schutt der ausgebrannten NSU-Wohnung in Zwickau gefunden worden war. Das schilderte am 180. Verhandlungstag eine BKA-Beamtin im Zeugenstand. Sie hatte mit Kollegen den Datenträger ausgewertet, auf dem auch Programme zur Bearbeitung von Videofilmen und Grafiken befanden – und zahllose Adressenlisten quer durchs Bundesgebiet.

Der Datenordner "Killer"

Eckhart Querner | Bild: BR zum Artikel Reportertagebuch 180. Verhandlungstag Ein Tag der Abgründe und Absurditäten

Ein Bewohner der Kölner Keupstraße, der den Nagelbombenanschlag überlebte, wurde unwissentlich zum Nebenkläger. Das berichtete er im heutigen Prozesstag. Eine BKA-Beamtin berichtete ihrerseits von zynischen Wetten unter dem NSU-Trio. [mehr]

„Killer“ – so waren die Dateien betitelt, die auch Aufschluss über die Reiserouten von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Deutschland geben. Daneben fanden sich allerdings auch Urlaubsfotos von Beate Zschäpe und den beiden Uwes auf der Daten-CD und die Konditionen eines seltsamen Rituals zum Abnehmen. Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gaben vor, um wie viele Kilogramm jeder sein Gewicht reduzieren wollte. Wer es nicht schaffte, der mußte Küche und Bad in der Terroristenwohnung putzen.

Peinliche Mandantenwerbung

Der zweite wichtige Zeuge des heutige Vormittags war ein deutscher Anwohner der Kölner Keupstraße, der Zeuge des Bombenabschlags vom 9.Juni 2004 wurde. Sein Auto wurde demoliert - er aber blieb unverletzt. Schon deshalb wollte er im Münchner NSU-Prozess nicht als Nebenkläger auftreten, wozu ihn allerdings einer der Anwälte immer wieder zu drängen versuchte. Ferhat Tikbas meldete den Kölner sogar gegen dessen Willen beim Oberlandesgericht als Nebenkläger und sich als dessen Anwalt an, was heute bei der Vernehmung des Zeugen auf peinliche Weise ans Tageslicht kam. Die seltsamen Methoden des Frankfurter Anwalts gipfelten in der Behauptung, sein Mandant habe bei der Detonation der Bombe einen Gehörschaden erlitten und müsse schon deshalb vom Gericht als Nebenkläger anerkannt werden. Genau das aber verneinte der Zeuge: "Mir hat überhaupt nichts gefehlt" und er bekräftigte, dem Anwalt nie eine Vollmacht erteilt zu haben. Was hinter seinem Rücken und gegen seinen ausdrücklichen Willen geschah, erfuhr der Kölner erst, als er Post vom Münchner Oberlandesgericht erhielt. Daraufhin habe er Tikbas angerufen und erklärt, dass er weder ihn als Anwalt noch ein Nebenklagerecht im Münchner NSU-Prozess haben wolle. Warum der vorgab ihn und gleich auch noch die ebenfalls unverletzt geblieben Schwiegermutter zu vertreten, sei ihm schleierhaft sagte der Zeuge dann. Und die 78jährige Schwiegermutter, die heute ebenfalls befragt wurde, legte gleich noch nach "Wie heißt der Herr Anwalt ? Den kenne ich gar nicht."

Mandantensuche selbst in der Türkei

 Ob die seltsamen Methoden des Anwalts Tikbas nun ein juristisches Nachspiel haben, ist noch unklar. In jedem Fall haben die peinlichen Enthüllungen des heutigen Tages eine Debatte weiter angeheizt, die bereits seit Tagen hinter den Kulissen und zwischen den über 60 Nebenklageanwälten tobt. Zum einen geht es um die fragwürdigen Werbemethoden einiger Anwälte, die selbst in der Türkei nach möglichen Mandanten für eine Nebenklage im NSU-Prozess suchen ließen - zum anderen aber um die Rolle der betroffenen Menschen selbst. Den Anliegen der bei dem Anschlag wirklich schwer verletzten und psychisch traumatisierten Menschen aus der Kölner Keupstraße schadet nach Meinung vieler Prozessbeobachter die Diskussion in jedem Fall.

Hinweis

Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton“, weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.


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