NSU-Prozess


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NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 74. Verhandlungstag, 15.1.2014

Ein Brandgutachter schildert detailliert den Ablauf der Explosion und des Brandes in der Frühlingsstraße in Zwickau.

Von: Holger Schmidt und Paul-Elmar Jöris

Stand: 15.01.2014 | Archiv

NSU Prozess Gerichtsprotokoll | Bild: BR

Der Brandgutachter Dr. Christian S. berichtet darüber, dass Benzin und vermutlich ein weiterer Brandbeschleuniger verwendet worden sind und dass die Zündquelle vermutlich die Wohnungstür war. Laut S. handelt es sich um eine Brandstiftung, die eine hohe Gefährdung Dritter nach sich gezogen hat. Ein weiterer Sachverständiger, Thomas R., schließt sich den Ausführungen von S. an.

Zeugen

  • Sachverständiger Christian S. (Landeskriminalamt Bayern)
  • Sachverständiger Thomas R. (Landeskriminalamt Sachsen)

ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal

(Holger Schmidt, SWR)
9.55 Uhr
74. Tag hat begonnen. Thema des Tages sind zwei Brandgutachten zu Zwickau. Zunächst wird noch ein Teilgutachten des BKA zu einer Flasche mit möglichem Brandbeschleuniger verlesen.

Zschäpe: roter Pulli, schwarzes Halstuch
Verlesung Gutachten Dr. Schäfer, BKA: Flasche aus Frühlingsstraße (gelbliche Flüssigkeit) enthält Benzin


Gutachten 1:
Dr. Christian S., 61, verheiratet, Physiker, LKA Bayern
Sein Gutachten hat drei Teile:

1. Zusammenfassung Brandgeschehen
2. Stellungnahme Zündquelle
3. Gefährdung Dritter

1. Brandgeschehen: Heftige Explosion und sehr rasche Brandausbreitung. Fotos zeigen wie schon Minuten nach Brandbeginn meterhohe Flammen aus den Fenstern schlagen. Hauswand im Bereich Wohnzimmer / Sportraum herausgesprengt, Trümmer bis auf Gehweg und Straße. Die Trennwand zum Nachbarhaus Nr. 26a wurde beschädigt, zeigte Risse und war verschoben. Benzinkanister schwarz mit gelbem Deckel wurde im Flur gefunden. Er enthielt eine geringe Restmenge Kraftstoff. Die Wohnungstür war von außen "nicht brandbetroffen".
Küche wenig betroffen, Sportraum und Katzenzimmer völlig ausgebrannt. Putz und Fliesen sind von den Wänden gebröckelt - ist ganz normal bei Feuer.

Schnelle Brandausbreitung: "Normales Feuer" denkbar? Nein, denn da gibt es keine Explosionen. "Man kann sofort sagen: Normaler Brand kann es nicht gewesen sein". Gasexplosion? Nein. Von der Explosion her ja, aber nicht vom Folgegeschehen. Dauert 5 - 10 Minuten, bis nur in einem Zimmer nach Gasexplosion ein Vollbrand entsteht. Sprengstoffexplosion? Gilt Gleiches, wie bei Gasexplosion.
Einzige Möglichkeit ist ein leicht flüchtiges Brandmittel, das großflächig ausgebracht und entzündet wird. Wenn sie das tun, bekommen sie beides: Explosion, weil leicht flüchtig und sich Gaswolken bilden, die die Wirkung einer Gasexplosion haben. Zudem bilden sich Lachen, die danach sofort heftig in Brand stehen. Das hat auch die Kripo Zwickau so erkannt und hat Hunde geschickt. Die haben an 22 Stellen angeschlagen. Dort wurden Proben genommen, 19 Proben waren positiv auf Kraftstoff: Bad, Küche, Wohnzimmer, Lager, Schlafzimmer, Katzenzimmer, linker Flur, linkes Bad, Treppenhaus. Interessant: Im Sportraum nichts gefunden, obwohl hier heftigste Explosion war und etwas gewesen sein muss. Wie kann das sein? Ausgebrannter Raum: Auch Brandmittel vollständig weggebrannt.
Untersuchungen auf Kraftstoffzusätze durch LKA Sachsen. Erkenntnisse: Spur 11 im Lager kann nicht vom Benzinkanister im Flur stammen. Ebenso Spur 29 aus dem Brandschutt vor dem Gebäude kann nicht aus dem Kanister stammen (abweichende mineralische Zusätze je nach Hersteller des Kraftstoffs). Es muss also mindestens eine zweite Quelle Brandbeschleuniger gegeben haben.

2. Zündquelle: Möglichkeiten: Offene Flammen, Funken oder heiße Oberflächen. Größere Mengen Teelichter gefunden, ebenso Lichtschalter vorhanden oder Kühlschrank-Schaltfunken. Auch: elektrostatische Funken wären denkbar. Heiße Oberflächen: Zündtemperatur 300 bis 500 Grad z.B. glühende Herdplatte. Elektroherd in der Küche war aber nachweißlich ausgeschaltet. Bei Toaster fraglich, ob er an war.
Drei Indizien, dass Brand an der Wohnungstür begonnen hat: Erstes Indiz: Benzinkanister an der Haustür: Brandstifter zündet, wo er gerade ist.
Zweites Indiz: Brandspuren auf dem Boden deuten darauf hin, dass eine "Luntenspur" gelegt worden ist: Flur, Eingang Badezimmer u. a.

Warum keine Brandspuren auf dem Boden? Bei glatter Oberfläche sehen sie fast nichts. Versuch beim BLKA gemacht: Benzin auf Kunststoffboden geschüttet, angezündet, fast keine Brandspur zu sehen. Denn es brennen die Dämpfe über der Lache, nicht die Lache selbst. Flammen schlagen nach oben weg.

Auch Hinweis auf diesen Verlauf: Brandspuren an den Türblättern Bad und Wohnung. Bild Katzenklappe (Brandspuren nur über der Klappe: Klarer Hinweis auf geschüttetes Benzin, nicht auf ausgelaufenes Benzin.)
Drittes Indiz: Es ist relativ viel Benzin im rechten Flur verschüttet worden. Dort hat es aber keine Explosion gegeben.

Ergebnis: Zündquelle lässt sich nicht bestimmen, aber Ort sehr wahrscheinlich die Wohnungstür.

3. Gefährdung Dritter? Klares Ja! Hauswand herausgesprengt. "Wand auf den Kopf bekommen" wäre definitiv lebensgefährlich gewesen. Wand zu Wohnung E.: Nicht mehr gasdicht. Wand hätte fallen können, "da hat offenbar nicht mehr viel gefehlt". Druckwelle wirkt nicht nur auf Außenwand, auch auf Decke. Kraft: ca. 3 Tonnen / qm. Dach wird regelrecht angehoben. Für Personen, die sich im Dach aufgehalten hätten, bestand Gefahr von Sturz und Verletzungen. Brand war kurz davor Treppenhaus zu erreichen. Holztreppenhaus! Wenn die Feuerwehr verspätet gekommen wäre oder schlecht gelöscht hätte, hätte Brand auch auf Haus 26a übergreifen können, da es keine Brandschutzwand gab.
Gefährdung Rauchgase: Die meisten Brandtoten durch Rauchgase. Solche Gase sind toxisch. Dunkle Färbung der Gase deutet auch auf schlechte Verbrennung: Viel Ruß und viel Kohlenmonoxid. Hoch gefährlich. Insbesondere eine der beiden Dachgeschosswohnungen war betroffen und gefüllt mit Rauchgas. Gefährdung Frau E., weil Trennwand nicht mehr rauchdicht war.
Explosion 15:08, Feuerwehr Ankunft 15:15. Frau E. war schon vorher gerettet. In diesen Minuten wird es für Frau E. nicht gefährlich gewesen sein, aber länger wäre gefährlich gewesen.

Zusammenfassung: Brandstiftung mit Benzin, Zündquelle nicht eindeutig, Hohe Gefährdung Dritter

Nachfragen von Zschäpe-Verteidiger Stahl und den Nebenklage-Anwälten Scharmer, Kolloge, Reinicke und Dierbach.

S. erläutert der Täter hatte eher keine Fachkenntnis zum Brandlegen. Er (S.) würde einen Brand mit Diesel legen: genauso günstig, aber weniger gefährlich.

(Paul-Elmar Jöris, WDR)
Sachverständiger Thomas R. (LKA Sachsen) zur Gefährdungssituation.

(Holger Schmidt, SWR)
Sachverständiger R.: Schließe mich S. an (macht kein eigenes Gutachten und es gibt keine Nachfragen)

13.50 Uhr: Schluss

Hinweis

Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.


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