NSU-Prozess


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NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 22. Verhandlungstag, 11.07.2013

Am 22. Verhandlungstag geht es um den Mordfall Kilic. Habil Kilic, 38, Obst- und Gemüsehändler wird im August 2001 im Laden seiner Frau in München-Ramersdorf erschossen. Die Polizei vermutet kriminelle Hintergründe. Es wird in Richtung "Organisierte Kriminalität" ermittelt. Die Art des Mordes an Kilic erinnert den Chef-Ermittler an eine "absolute professionelle Hinrichtung", also an Auftragsmörder aus dem Mafia- oder Drogen-Milieu. Ermittlungen in Richtung "rechtsextremer Hintergrund" gab es nicht.

Von: Holger Schmidt, Rolf Clement, Oliver Bendixen und Matthias Reiche

Stand: 11.07.2013 | Archiv

NSU Prozess Gerichtsprotokoll | Bild: BR

Josef Wilfling, damals der Chef der Münchner Mordkommission – und erfolgreicher Aufklärer – rechtfertigt in seiner Zeugenaussage die damaligen Ermittlungen. Es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen den Nebenklägeranwälten und ihm.
Danach werden die Witwe  und die Schwiegermutter der ermordeten Habil Kilic befragt. Sie sind die ersten Angehörigen eines Mordopfers, die im NSU-Prozess vor Gericht aussagen.

Zeugen

  • Josef Wilfling, damals Leiter der Münchner Mordkommission, pensioniert
  • Pinar Kilic, Witwe des ermordeten Gemüsehändlers
  • Ertan O., Schwiegermutter von Habil Kilic
  • Bruno A., Münchner Polizist
  • Manfred H., Kriminalhauptkommissar

ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal

(Holger Schmidt, SWR)
10.10 Uhr. Josef Wilfling, 66, Kriminaloberrat a.D. Wir wurden kurz nach 11.00 Uhr vormittags an diesem 29. August, einem Mittwoch, verständigt. Vor Ort waren der Außendienstleiter und die Erstzugriffskräfte. Kilic in seinem Geschäft hinter der Ladentheke in Blutlache aufgefunden. Notarzt: Gewaltsamer Tod mittels Schusswaffe. Tatort abgesperrt, Spürhund eingesetzt, weil keine Tatwaffe da war. Parallel Befragung der Anwohner. Erste auffallende Mitteilung war der Auffindungszeuge. Wir konnten die Tatzeit sehr genau eingrenzen und da hat sich das Bild ergeben: 10.30 Uhr Kunden im Laden, zwei Minuten Einkauf, 10.32 Uhr Anruf Kollege des Opfers aus der Großmarkthalle, drei Minuten, also 10.35 Uhr, es kam dann um 10.40 Uhr eine Kundin in den Laden mit zwei Kindern und in dem Moment kam der Postbote, 10.53 Uhr Anruf bei der Polizei. Zwei Damen unabhängig voneinander haben einen dunklen Mercedes gesehen, der mit quietschenden Reifen abfuhr, nachdem ein Mann in den Wagen stürmte. Ich kann es vorweg nehmen: Die beiden Damen haben gar nichts gesehen, die eine hat gar nichts gesehen, die hat es erfunden, und hat es der anderen erzählt. Stimmte nicht, Frau hatte ein Alkoholproblem, konnte es gar nicht sehen. Zweite falsche Spur: Silbernes Fahrzeug, gehörte einem Rentner, der sich durch das Fahrrad des Postboten gestört fühlte. Der hat sich aber nicht gemeldet, wir mussten 300 Fahrzeuge dieses Typs überprüfen.

Zwei Damen wiesen uns auf zwei Fahrradfahrer hin. Eine Dame keine 20 Meter vom Tatort: Zwei Männer in dunkler Kleidung auf Fahrrädern dicht an der Hauswand entlanggefahren, fünf Minuten später wieder zurück. Weitere Zeugin im Parallelblock. Beschreibung: Junge Männer zwischen 18 und 30, sportlich, wie Kurierfahrer. Fahndung, auch nach den Radfahrern, sogar mit Hinweis auf Eigensicherung an die Streifen. Öffentlich wurden die Radler als Zeugen gesucht. Am Tatort Rechtsmediziner Dr. P. hinzugezogen. Erster Kopfschuss hinter der Verkaufstheke gesetzt Wangenregion, zweiter Schuss im Fallen oder schon am Boden in den Hinterkopf. Beide Projektile gefunden, keine Hülsen, aber ein Stückchen Plastik von einer Plastiktüte, möglicherweise Schuss durch Plastiktüte. Absolut professionelle Hinrichtung mit einer Art Fangschuss.
Richter Götzl: Feststellungen zum Opfer?
Zeuge Wilfling: Ein Raubmord konnte ausgeschlossen werden: Geldbörse war da, Kasse war bestückt. Es ging nicht um Raub, sondern um ein anderes Motiv.

(Holger Schmidt, SWR)
10.40 Uhr Pause bis 11.00 Uhr. Lichtbilder. Nach Obstkisten und Bild von Tisch mit Melonen-Vierteln, kommen Bilder des Toten auf dem Boden. Viel hellrotes Blut auf den weißen Kacheln, verschmiert und mit Fußabdrücken. Nahaufnahmen des Kopfes. Fürchterlich. Wilfling, sachlich: "sieht man hier schön deutlich den Einschuss". Bilder von der Kleidung: Einzelaufnahmen Oberbekleidung, weiße Socken, schwarze Schuhe. "Laden unauffällig: Ordentlich, sauber, die üblichen Waren." "Auch die Wohnung durchsucht, keine Auffälligkeiten." Projektil vor Türmatte im Eingangsbereich gefunden. "Mit hoher Sicherheit herausgetragen". Projektil Kaliber 7.65. "Wir fanden in dem Laden außer den beiden Projektilen keine einzige tatrelevante Spur".

(Rolf Clement, DLF)
10.20 Uhr: In dem Laden haben oft Polizisten von einer nahegelegenen Polizeiwache eingekauft. Vor dem Laden lagen Zigarettenkippen. Die wurden untersucht. Alle Autos, die da parkten, wurden untersucht. Fotos der Leiche werden gezeigt, liegt in Blutlache, aber durch Notarzt verändert, der wiederbeleben wollte. Lag hinter dem Verkaufstresen. Täter konnten nur durch die Vordertür hereingekommen sein, Hintertür war mit Ware verstellt. Während die Bilder des Toten gezeigt werden surft Zschäpe in ihrem Computer. Schaut nicht auf die Fotos, sie hat nach meinen Informationen die Bilder nicht auf ihrem Computer. Kein Blick auf die Leinwand. Bilder vom Laden zeigen einen etwas überfüllten (von Waren), aber sauberen Lebensmittelladen.

(Oliver Bendixen, BR)
Zeuge Wilfling: wir gingen von organisierter Kriminalität aus, weil in diesem Jahr mehrere Drogenhandel-Taten an Türken. Heute wissen wir vieles besser. Nicht den Fehler machen, aus der Sicht von heute die Ereignisse von damals zu beurteilen. Fünfzig Prozent aller Zeugenaussagen sind falsch.

(Rolf Clement, DLF)
11.51 Uhr: Nebenklägerfragen.

Zeuge Wilfling: Wir wussten von der Serie, von Taten in Hamburg und Nürnberg. Wollten vom GBA (Generalbundesanwalt) wissen, ob das in diese Serie gehören könnte. Wir wussten, da werden Menschen gezielt hingerichtet. Wir wollten wissen, ob das Projektil mit den anderen zu vergleichen ist. Weitere Gemeinsamkeit: Die Opfer waren alles türkische Mitbürger. Dass es da einen Zusammenhang geben kann, liegt auf der Hand. Er hat am Tag vor der Tat mit Menschen telefoniert, die eine Drogenbeziehung hatten. Im Großmarkt hat er gesagt, dass er Probleme mit Landsleuten hatte. Er verkehrte in der türkischen Community, also ermittelten wir in diese Richtung. Mit Nürnberg wurde konferiert, auch mit dem Verfassungsschutz. Es gab immer die Tendenz zur organisierten Kriminalität. Simsek-Fall (Nürnberg, September 2000, das erste NSU-Mordopfer) wurde immer wieder besprochen. Wurde damals als "normaler Mordfall" behandelt. Erst, als die Waffe wieder auftauchte, wurde man aufmerksam: Könnte das eine Serie werden?

Es stand ein Türke mit Mongolenbart vor dem Laden, der von einem anderen gesehen wurde, von dem man annahm, dass er eventuell der Besitzer des silbernen Escort war. Er wurde als Zeuge gesucht. Die Radfahrer waren zunächst Zeugen, ganz normale Zeugen. Wir haben nach denen offen gefahndet, gesucht, aber wenn sich niemand meldet, können wir auch nichts machen. Ich habe die Ermittlungen nur am Anfang geführt, später ging das an die „SoKo Halbmond“. Es gab viele Besprechungen, Überlegungen, das wurde dann in die „SoKo Bosporus“ übergeben. Immer wieder wurde ich im Untersuchungsausschuss gefragt, warum wir nicht erkannt haben, dass es sich bei den Radfahrern um Neonazis handelt. Da habe ich dann mal gefragt: Haben Sie schon einmal einen Neonazi auf einem Fahrrad gesehen? Wir haben damals eben nicht geahnt, dass die die Täter waren. Heute weiß ich das.

(Holger Schmidt, SWR)
11.51 Uhr. RA Scharmer: Vermerk "eilt sehr": Projektile an das BKA geschickt. Warum?
Zeuge Wilfling: Serie war bekannt, Frage, ob die Tat auch dazu gehört. Ich habe von der Tat in Nürnberg 2000 (Mordfall Simsek) gewusst, 2001 drei weitere, Nummer vier hätte unser Fall sein können. "Da werden Menschen gezielt hingerichtet". Parallelen? Natürlich in erster Linie die Opfer: türkische Mitbürger. Am Tag vor seiner Tötung sagte er zu einem Zeugen in der Großmarkthalle "ich habe Probleme mit türkischen Landsleuten", das letzte Telefonat hat er mit einem jungen Mann geführt, der Kontakte im Drogenmilieu hatte. Gegen die Angehörigen der Familie Kilic bestand keine Sekunde lang ein Verdacht. Es gibt die Ermittlungsrichtung "Besondere Ereignisse im Vorfeld der Tat?" Da war nichts. Er verkehrte nur in türkischem Milieu. Es gab verschiedene Besprechungen - und es konzentrierte sich immer wieder auf Organisierte Kriminalität.
Rechtsanwalt Narin (Anwalt der Nebenkläger, Familie Kilic): Warum die Spur mit dem "Mulatten" so viel stärker gewichtet, als die beiden Radfahrer?
W.: Hätten Sie nicht anders gemacht (führt das aus)
RA Narin: Rolle Mann mit Mongolenbart?
W.: Erinnere mich genau, führte zu nichts, war im Kontext des silbernen Fahrzeugs.
Rechtsanwalt Rabe (vertritt Semiya Simsek, Nebenklage): Was wurde zur Überprüfung der Radfahrer getan?
W.: Sofortfahndung!
RA Rabe: Wie weiter mit der Spur?
W.: Müssen sie die SoKo fragen, da war ich nur bei Besprechungen dabei.
RA Narin: Sie sagten eben im Rahmen der Fahndung auch öffentlich nach Radfahrern gesucht. Wie?

W.: Aufruf an die Öffentlichkeit.
W.: Die Frau Tausendfreund wollte von mir wissen, warum ich nicht erkannt habe, dass die Fahrradfahrer Neonazis sind. Wusste man nicht. Habe ich immer wieder gesagt. Dummerweise habe ich dann irgendwann den Satz gesagt "haben Sie schon mal einen Neonazi auf dem Fahrrad gesehen".
RA Narin: Aber den "Mulatten" haben sie als tatverdächtig gesehen.
Protest. Narin zieht die Bemerkung pro forma zurück.
Rechtsanwalt Daimagüler (Nebenklage): Hat die Tatsache, dass die Radfahrer sich nicht melden ihre Einschätzung beeinflusst?
W.: Heute wundert mich das nicht, dass die sich nicht gemeldet haben. Aber sie haben sich nicht gemeldet. Hat das etwas verändert? Nein. Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass es sich um die Täter handeln könnte. Heute sehe ich das anders, aber sie müssen unterscheiden, was damals unsere Kenntnis war und was heute.
RA Daimagüler: politischer Hintergrund?
W.: Natürlich, wir haben 50 Zeugen befragt. Da kamen aus dem Umfeld lauter Hinweise: PKK, Graue Wölfe, das waren die Hinweise die wir bekommen haben aus dem Umfeld der Opfer. Hinweise auf Druck der PKK früher, Frau Kilic berichtete von einem komischen Anruf einige Tage früher. Man muss auch Modus Operandi berücksichtigen. Wir haben uns auch 48 Tötungsdelikte aus dem rechtsextremen Bereich angesehen. Da war kein einziger dabei, der diesem Modus entsprach. Das waren laute Taten, nicht professionelle Hinrichtungen. Im Bereich Organisierte Kriminalität gab es haufenweise Spuren. Soll keiner so tun, als gäbe es keine türkische Drogenmafia und dass die Wege über Holland laufen. Und es gab Opfer mit Verbindungen nach Holland. Herr Kilic war ein kreuzbraver, arbeitsamer Mensch.
RA Rabe (Nebenklage): Welches Opfer hatte Bezug nach Holland? Der Schneider aus Nürnberg?
Bundesanwalt Diemer: (mosert) Auf Anklagevorwurf beschränken!
Rabe: insistiert.
W.: Er arbeitete in der Großmarkthalle, er war in einer finanziell prekären Lage, da waren unsere Überlegungen, ob da der Hintergrund sein könnte. Ist es um ein Auftragsdelikt gegangen? Das war unsere Überlegung.
RA Erdal (Nebenklage): Seit wann sind sie denn im Dienst gewesen?
W.: Seit 1966 …
Richter Götzl unterbricht. Was soll das mit der Tat zu tun haben?
RA Erdal: Verständnisfrage! Haben Sie von den Brandanschlägen von Solingen und Mölln gehört? Dass es hier kranke Menschen gibt, dass es Herrenmenschen gibt?
Wilfling: Wir alle hätten diese Serie gerne geklärt, egal in welcher Richtung der Täter zu finden ist. Niemand ist auf dem rechten Auge blind.
Schreierei zwischen Richter Götzl und Anwalt Erdal.
Götzl: Bleiben sie sachlich. Ich ermahne sie!
Erdal: Der Zeuge hantiert mit Halbwahrheiten.
G.: Bei allem Verständnis. Wir machen jetzt mal eine kurze Pause und sie beruhigen sich. Wir machen jetzt fünf Minuten Pause und Sie regen sich bitte ab!

Pause. Richter Götzl zieht Robe aus und bestellt Rchtsanwalt Erdal an den Richtertisch, Erdal lacht.

(Holger Schmidt, SWR)
11.57 Uhr weiter, Erdal zu spät.
Rechtsanwalt Manthey (Nebenklage, vertritt die Witwe des Mordopfers Habil Kilic): Wie hat sich Polizei um Familie Kilic gekümmert?
Zeuge Wilfling: Intensiv! Sie waren wochenlang, stundenlang bei mir im Büro, wir haben sie auch an den Weißen Ring (Opferhilfe) vermittelt für finanzielle Hilfen. Probleme haben wir mit der Schwägerin des Opfers gehabt, sie hat uns mitgeteilt, dass sie kein Interesse an der Aufklärung hat und uns auch Fingerabdrücke und DNS-Spuren verweigert, die Familie hätte schon genug Probleme. Wer mich kennt weiß, dass ich mir bei solchen Fragen sehr viel Mühe gegeben habe.
Verteidigerin Sturm (Verteidigung Zschäpe): kleiner Plastiktütenschnipsel, Verdacht, Schuss durch eine Tüte. Wo gefunden?
W.: Keine Erinnerung. Bitte Erkennungsdienst fragen, habe keine Erinnerung. Tüte kann auch der Tarnung der Waffe dienen.
RAin Sturm: 50 Prozent der Zeugenaussagen sind falsch. Wissenschaftliche Untersuchung, die meine Erfahrung bestätigt. "Wir Menschen irren uns, wir sind befangen und wir lügen".
Verteidigerin Schneiders (Verteidigung Wohlleben): Herr D. bekannt?
W.: Ja, notorischer Hinweisgeber. Wer Herrn D. zum Freund hatte, der braucht keine Feinde, der wusste immer zu jedem Fall etwas. Er ist immer noch als Informant tätig. Muss man mit höchster Vorsicht bewerten.
Verteidiger Klemke (Verteidigung Wohlleben): Sagt ihnen eine türkische Organisation (spricht pikiert) "Milli Görüs" etwas?
W.: Ja, auch eine Organisation, die nicht den besten Ruf hat. Es hat sich aber herausgestellt, dass er (Kilic) zu keiner dieser Gruppen einen Kontakt hatte. Es gab viele Hinweise, von denen sich keiner als zutreffend herausgestellt hat.
RA Lucas (für alle Familienmitglieder Simsek und RA Daimagüler): Im Rahmen der Hauptverhandlung muss deshalb die Frage geklärt werden, ob die Polizei an diesen Hypothesen festhält. Denn es muss geklärt werden, wie die Auswahl der Opfer erfolgt ist. Opfer haben postmortale Persönlichkeitsrechte.

(Holger Schmidt, SWR)
Zeuge Manfred H., 45 Jahre, erster Kriminalhauptkommissar: Zeugin Frau S. am 20. Januar 2012 vorgeladen, Lichtbildvorlage. Hat schon gleich gesagt, es falle ihr nach zehn Jahren sehr schwer, jemand zu erkennen, zumal sie bei den Radfahrern die Gesichter nicht gesehen hat, weil sie von schräg oben geschaut hat. Ergebnis: Bei vier Personen Typ-Ähnlichkeit, waren aber alles Dummies. S. ist eine Nachbarin im Fall Kilic, die die Radfahrer gesehen hat. Jenseits der Lichtbildvorlage äußerte S., der kleinere der beiden Uwes sei "auf jeden Fall dabei gewesen". Allerdings erkannte sie ihn nicht auf den Lichtbildvorlagen.

(Matthias Reiche, MDR)
14.01 Uhr. Vernehmung des Münchner Polizeibeamten Bruno A. Hatte 2012 Frau M. befragt, die am Mordtag aus ihrem Schlafzimmerfenster zwei sportliche, junge Männer beobachtete, wie diese auf silbernen Rädern davonfuhren - sah sie allerdings nur von hinten. Dementsprechend wenig ergiebige Befragung. Pause bis 14.30 Uhr, dann Frau Kilic.

(Holger Schmidt, SWR)
14.35 Uhr. Pinar Kilic, 51, war Verkäuferin Einzelhandelskauffrau: seit mein Mann erschossen wurde arbeite ich nicht mehr. In Richtung Zschäpe "diese Frau, die das gemacht hat…" Götzl unterbricht. "Ihre Anschrift?" - "Ich gebe Dir den Ausweis weiter, ja? Am Eingang habe ich auch meine Adresse angegeben."
Richter Götzl: Vielleicht beginnen wir damit, dass Sie uns ihren Ehemann schildern.
K.: Er war ein sehr guter Mensch für mich. Familienvater. Er war für mich anständiger Mann. Was soll ich denn noch erklären?
G.: Wann haben sie ihn kennengelernt?
K.: In der Türkei kennengelernt, bei Urlaubszeit, war schön.
G.: Wann war denn das ungefähr?
K.: Habe das Herrn Manthey (ihr Anwalt) gesagt. Haben Sie das nicht gelesen?
G.: erklärt das Mündlichkeitsprinzip.
K.: Das ist nett, dass Sie das so fragen, habe die ganze Sache auch nach Berlin geschickt, sie können auch Herrn Manthey fragen. Oder Herrn Wilfling (Leiter der Mordkommission im Fall Kilic)
G.: Ich will mit Ihnen darüber reden.
K.: Er ist ein guter Mensch gewesen.
G.: Was hat er gearbeitet?
K.: In der Großmarkthalle und ich habe den Laden betrieben.
G.: Hat er im Laden mitgearbeitet?
K.: Ja, er hat geholfen. Großmarkthalle früh um drei bis Mittags um zwei.
G.: Wenn ich Sie höflich frage, erwarte ich auch von Ihnen höfliche Antworten.
K.: Herr Wilfling hat den Schlüssel meiner Mutter gegeben. Das Blut war im ganzen Laden, bis ins Klo. Erklären Sie mir mal, wie das sein kann. Wir mussten das alles selbst sauber machen.
G.: Was hat sich in Ihrem Leben verändert? Ich kann mir das vorstellen, aber es ist nicht damit getan, es geht darum, dass Sie uns das schildern.
K.: Die haben uns eine große Menge Schaden gebracht. Meinen Mann ermordet, meinen Freundeskreis kaputtgemacht, meinen Freudendeskreis zerbrochen. Alles. Also, ich bin aus der Türkei zurückgekommen und habe nicht gewusst, dass er so brutal ermordet wurde. Ich habe gedacht, er liegt im Krankenhaus. Ich habe nicht gewusst. Wie kann das passieren? Er wollte sein Geld verdienen. Nichts anderes.
G.: Wie ging es denn dann weiter?
K.: Wie kann NSU sein? Wie kann es solche Sachen geben? Ein paar Tage musste der Laden geschlossen sein. Polizei hat mir ein Schild gegeben und Fotos von links und rechts gemacht. Sonst waren die nett. Rente 177,81 Euro.
G.: Wie ist denn ihr Leben weitergegangen?
K.: Sie müssen so stark sein, aber so stark kann man nicht werden. Irgendwann bricht alles zusammen. Wenn ich jemand ermordet hätte, wäre ich nach zehn Jahren wieder frei. Aber so ist es lebenslänglich, wie eine Kette um den Hals.

(Matthias Reiche, MDR)
16.21 Uhr. Vernehmung von Zeugin Ertan O., Schwiegermutter des Ermordeten. War einen Tag vor dem Mord noch bei Habil Kilic, wurde dann offensichtlich noch am Mordtag dreieinhalb Stunden von der Polizei verhört, angeblich ohne zu wissen, was mit ihrem Schwiegersohn geschehen war. War angeblich um 9.00 Uhr bei der Polizei. Bringt wohl etwas durcheinander. Laut Polizeivermerk kam sie gegen 13.30 Uhr zur Polizei, weil sie gehört hatte, dass etwas mit ihrem Schwiegersohn passiert sei. Sie beharrt auf ihrer Meinung und es geht wohl einiges durcheinander in ihrer Erinnerung an diesen für sie sicher dramatischen Tag. Erzählt dann ausführlich über die schwere Zeit in der man als "Mörderfamilie" galt, dem Opfer wurden Frauengeschichten und Drogenhandel angehängt. Erzählt dann über die gravierenden gesundheitlichen Folgen für ihre Tochter. Fragt, warum man immer nur in der türkischen Gemeinde die Täter suchte - "das war verlorene Zeit".

16.20 Uhr, Ende.

Hinweis

Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.


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