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Die Anklage Gestützt auf Dokumente

Der NS-Verbrecher-Prozess gegen John Demjanjuk war ein Novum: Erstmals in der bundesdeutschen Justizgeschichte musste sich ein nichtdeutscher Wachmann eines NS-Todeslagers wegen mutmaßlicher Beteiligung am Holocaust verantworten. Kein Trawniki wurde zuvor vor einem deutschen Gericht belangt.

Stand: 12.05.2011 | Archiv

Angeblicher Dienstausweis von John Demjanjuk als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor | Bild: picture-alliance/dpa

Ein weiteres Novum, das zunächst als juristisch problematisch eingeschätzt worden war: Zum ersten Mal stand ein mutmaßlicher untergeordneter NS-Befehlsempfänger ohne konkreten Nachweis einer Tat vor einem deutschen Gericht. Die Anklage musste daher juristisches Neuland betreten: Sie ging davon aus, dass ein Wachmann eines Vernichtungslagers automatisch Mordhelfer war. Als Teil der Tötungsmaschinerie habe er gar nicht anders gekonnt als sich daran zu beteiligen.

Demjanjuks Sohn: "Schauprozess"

Eines der Dokumente: John Demjanjuks Identitätskarte

Das war auch der Punkt, an dem Demjanjuks Verteidiger einhakte. Er kritisierte, die deutsche Justiz habe keine Beweise. Der Sohn des Angeklagten ging noch weiter. John Demjanjuk jr. warf der Münchner Justiz vor, sie veranstalte einen "Schauprozess".

Und es gab durchaus Schwierigkeiten für das Verfahren: Geklärt werden musste, ob ein deutsches Gericht überhaupt zuständig ist. Der gebürtige Ukrainer beging die Taten, so er sie beging, auf polnischem Territorium. Und dann die Frage: Hätte er sich gegen die Tötungsbefehle wehren können, ohne sein eigenes Leben zu gefährden? Demjanjuks Anwalt bezweifelte das. Die Argumentation erinnerte jedoch an das entlastende Argument "Befehlsnotstand" aus früheren NS-Kriegsverbrecherprozessen. Problematisch war auch, dass rund 65 Jahre nach Kriegsende kaum noch lebende Zeitzeugen von Sobibor ausfindig gemacht werden konnten. Die Staatsanwaltschaft musste im wesentlichen auf Dokumente zurückgreifen.

Namensliste mit 29.000 Häftlingen

Einige davon waren von den Nazis angefertigte Namenslisten aus dem KZ Westerbork in den Niederlanden, die sich erhalten haben. Darin sind insgesamt 29.000 Häftlinge verzeichnet, die mit Zügen nach Sobibor transportiert wurden. Die Ermittler zogen davon die vermutete Zahl von Gefangenen ab, die während des Transportes starben und kamen auf etwa 28.000 im Lager Ermordete. Diese legte die Anklage Demjanjuk zur Last. In Wirklichkeit wurden in Sobibor wesentlich mehr Menschen umgebracht. Doch die Listen aus anderen Herkunftslagern existieren nicht mehr, die Nazis vernichteten sie kurz vor Kriegsende.

Der SS-Dienstausweis - Hinweis auf Sobibor

Zentrales Beweisstück für die Anklage war ein SS-Dienstausweis. Er wurde ausgestellt auf Iwan Demjanjuk. Er soll ihn 1942 als Aufseher im Ausbildungslager Trawniki bekommen haben. In dem Papier ist unter anderem eingetragen: "27. 3. 43 Sobibor": Das ist der Tag, an dem er offenbar ins Vernichtungslager Sobibor kommandiert wurde. Der Ausweis lagerte früher in einem Tresor des US-Justizministeriums in Washington. Für den Prozess wurde er nach München geflogen.

Fotokopie des angeblich auf Iwan Demjanjuk ausgestellten SS-Dienstausweises

Seine Echtheit wurde immer wieder angezweifelt. Zuletzt stufte ihn das Bayerische Landeskriminalamt als authentisch ein. Weiteres Dokument: Der Name Iwan Demjanjuk taucht auf einer Verlegungsliste von Trawniki nach Sobibor auf.

Hintergrund: Sobibor- und Trawniki-Prozesse in Deutschland

Franz Stangl vor dem Düsseldorfer Landgericht

Bereits 1966 standen in Sobibor eingesetzte SS-Männer vor einem deutschen Gericht. Die Urteile fielen milde aus: vier Freisprüche, einmal lebenslang, fünfmal Freiheitsstrafen zwischen drei und acht Jahren. Lagerkommandant Franz Stangl erhielt ebenfalls lebenslang.

Zwischen 1972 und 1976 wurde gegen den Trawniki-Kommandeur Karl Streibel verhandelt. Mangels Beweise kamen er und fünf weitere Angeklagte straffrei davon.

Bislang wurde es vermieden, ausländische NS-Helfer vor ein deutsches Gericht zu stellen. Demjanjuk war der erste.


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