55

Stau bei Asylanträgen Es liegt nicht nur an den vielen Flüchtlingen

Deutschland steht vor einem Berg von Asylanträgen. Würde man einen Stapel bilden, wäre er größer als der aller anderen EU-Staaten zusammen. Ein Berg von Akten, ein Berg von Schicksalen, der immer schneller bearbeitet, aber trotzdem nicht kleiner wird. Woran liegt das?

Von: Katrin Schirner

Stand: 07.08.2015 | Archiv

Symbolbild: Wartende Flüchtlinge im Warteraum einer Behörde | Bild: picture-alliance/dpa

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg ist ein nüchterner Zweckbau. Die Behörde hat insgesamt 2.800 Mitarbeiter, im ganzen Land sind zudem Außenstellen verteilt, die direkt in den Erstaufnahmeeinrichtungen Anträge bearbeiten. In den letzten Monaten wurden 650 neue Mitarbeiter eingestellt, bis Jahresende kommen noch mal 1.000 dazu. Noch mal 1.000 sind für das nächste Jahr geplant. Dadurch wächst auch die Zahl der sogenannten Entscheider. Das sind die Beamten, die am Ende das Urteil fällen. Soweit die Zahlen, die auf den ersten Blick gut klingen.

Bundesamt kommt nicht hinterher

Bundesamt für Migration in Nürnberg

Warum dann der Berg der unbearbeiteten Anträge? Zum Teil liegt es natürlich daran, dass in Deutschland besonders viele Anträge gestellt werden. Aber auch an der Gründlichkeit der deutschen Bürokratie. Im Ausland beneidet man uns darum. Aber manchmal schießt der deutsche Amtsschimmel über das Ziel hinaus.

Die Maßstäbe an die Qualität der ganzen Antragsprozedur liegen hoch. Das fängt schon damit an, dass die Entscheider lange ausgebildet werden. Am Ende müssen sie nicht nur sattelfest in den rechtlichen Grundlagen sein, sondern auch profundes Hintergrundwissen über die Fluchtländer besitzen und wie ein Psychologe und Sozialpädagoge mit den teilweise schwer traumatisierten Flüchtlingen umgehen. Je nach Bedarf spricht der Entscheider mehrmals mit dem Flüchtling, versucht dessen Geschichte auf Glaubwürdigkeit abzuklopfen.

Balkanflüchtlinge versus Flüchtlinge aus Kriegsgebieten

Seit einiger Zeit fährt das Bundesamt eine Strategie der zwei Geschwindigkeiten. Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Eritrea werden bevorzugt behandelt, weil sie eine hohe Anerkennungsquote haben. Umgekehrt zieht man auch die Antragsteller aus den Ländern des Westbalkans vor. Denn sie werden fast zu hundert Prozent abgelehnt und zur Ausreise aufgefordert. Jede schnelle Ablehnung ist eine Akte weniger auf dem Schreibtisch und ein Bett weniger, das man bereitstellen muss. Allerdings gehen diese vorgezogenen Anträge auf Kosten anderer Flüchtlinge, die umso länger warten müssen. So liegen selbst noch Alt-Anträge aus dem Jahr 2013 auf Halde. Trotzdem: Diese neue Strategie hat einiges gebracht, heute wird ein Asyl-Antrag in durchschnittlich fünf Monaten bearbeitet, in der Vergangenheit waren es sieben Monate.

240.000 unbearbeitete Asylanträge stapeln sich

Flüchtlinge in Rosenheim

Gute Entscheider, vernünftige Prioritäten und deutlich mehr Personal.  Und trotzdem kommt das Bundesamt für Migration nicht mit den Anträgen hinterher. Rund 240.000 unbearbeitete Asyl-Anträge sind es derzeit. Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Dietrich Thränhardt liegt das vor allem an zwei Faktoren. Einmal prüfen die Bearbeiter jeden Antrag daraufhin, ob der Flüchtling schon in einem anderen EU-Land registriert wurde. Und stellen, wenn das der Fall ist, im betreffenden Land einen Antrag auf Rückführung. So verlangt es das sogenannte Dublin-Abkommen, demzufolge Flüchtlinge dort ihren Asyl-Antrag stellen müssen, wo sie das erste Mal in die Europäische Union einreisen.

Jeder fünfte Antrag, den das Bundesamt bearbeitet, ist ein solcher „Dublin-Fall“. Das Problem ist nur: in den seltensten Fällen findet eine solche Rückführung tatsächlich statt, der Flüchtling bleibt trotzdem in Deutschland, und man hat viel Zeit verloren. Andere Länder, wie das besonders belastete Griechenland und Italien, wenden Dublin teilweise nicht mehr an. Immer mehr noch nicht registrierte Flüchtlinge, die eindeutig aus einem anderen EU-Land kommen, treffen in Deutschland ein.

Jeder positive Asylantrag wird später nocheinmal geprüft

Der zweite Faktor, der die Bearbeiter bisher sehr belastete, sind die sogenannten „Widerrufs-Prüfverfahren“. Seit 2008 prüft das Bundesamt jeden positiven Asylantrag nach drei Jahren ein zweites Mal. Ob die Asylgründe wirklich der Wahrheit entsprachen, und ob der anerkannte Flüchtling in der Zwischenzeit straffällig wurde. Allerdings wurde nur ganz selten, bei gerade mal fünf Prozent der Fälle, der Asylstatus wieder aberkannt. Die besondere Gründlichkeit der Bürokratie - das Widerrufs-Prüfverfahren gab es nur in Deutschland - hat viel Kapazität bei den Entscheidern gebunden.

Immerhin: seit Anfang August fällt diese Regelprüfung weg. Statt alle ohne Anlass zu prüfen, pickt man Einzelfälle heraus, denen zum Beispiel der Asylstatus aberkannt wird, wenn sie innerhalb der ersten drei Jahre straffällig werden. Ganz klar: das wird den Entscheidern eine Menge Luft verschaffen. Letztendlich aber muss die Europäische Union endlich zugeben, dass das Dublin-Verfahren gescheitert ist. Europa braucht eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, bei der jedes Land entsprechend seiner Einwohner und Wirtschaftskraft Flüchtlinge aufnimmt. Doch in den letzten Monaten wurde geradezu verbissen um die Verteilung von gerade mal 60.000 Flüchtlingen in Europa gefeilscht. Da sind Zweifel erlaubt, ob mehr europäische Solidarität bald gelingen kann.


55