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Bürokratie im Gesundheitswesen Je kränker, desto besser

Mit Bürokratie-Fallstricken die Einnahmen verbessern? Aus Sicht vieler Ärzte und Therapeuten trifft das im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen zu. Recherchen von report München über die Folgen der Gesundheitsbürokratie.

Von: Ulrich Hagmann, Fabian Mader

Stand: 20.09.2016

Christoph Meyer betreibt seit vielen Jahren eine Arztpraxis in Norddeutschland. Seit Kurzem bekommt er regelmäßig Besuch von Vertretern gesetzlicher Krankenkassen. Sein Eindruck: er solle möglichst viele chronisch kranke Patienten melden, weil die Kasse dann mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds erhält.

"Zum Beispiel war ein Patient bei mir einmal mit Oberbauchschmerzen. Dann kam von den Kassenmitarbeitern die Frage, ob er nicht chronisch krank ist, mit einer psychischen Komponente, was der Kasse erheblich mehr Geld aus dem gemeinsamen Topf einspielen würde."

Dr. Christoph Meyer, Allgemeinmediziner

Denn: Je kränker der Arzt einen Patienten einstuft – desto mehr Geld bekommt die Kasse aus dem Gesundheitsfonds. Besonders nachgefragt: Psychische Erkrankungen. Für den Patienten mit den Oberbauchschmerzen schlägt die Kasse daher die Codierung F45.41 vor, sie steht für eine chronische und psychische Erkrankung.

Allgemeinmediziner Christoph Meyer ist dem Rat nicht gefolgt – inzwischen weist er die sogenannten Codier-Experten der gesetzlichen Krankenkassen direkt an der Tür ab. Ihn nervt das Gebaren der Mitarbeiter.

"Es wird sich zeigen, dass unsere deutsche Bevölkerung statistisch gesehen so krank ist, dass sie eigentlich kaum noch laufen kann."

Dr. Christoph Meyer, Allgemeinmediziner

Gegenüber report München bestätigen mehrere gesetzliche Krankenkassen, dass sie Mitarbeiter für die sogenannte Codier-Beratung abgestellt haben. Bei einer großen Kasse sind es 100 Beschäftigte. Für Arzt Christoph Meyer eine Farce – diese Mitarbeiter werden schließlich ebenfalls mit dem Geld der Beitragszahler finanziert.

Geld verdienen mit Bürokratie? Nicht nur aus Sicht vieler Ärzte trifft das auf gesetzliche Krankenkassen zu.

Reinhard Schülke beispielsweise führt eine Physiotherapie-Praxis in Uelzen. Seine Frau ist ebenfalls Physiotherapeutin, arbeitet aber nur noch im Büro – denn die Abrechnungen mit den gesetzlichen Krankenkassen sind hoch kompliziert. Ärzte schreiben nämlich eine Verordnung, wenn ein Patient Physiotherapie bekommt. Darauf schleichen sich schnell kleine Fehler ein, die schlimme Folgen haben können.

"Es sind mit Sicherheit sind 20-30 Prozent der Verordnungen, die wir von Ärzten bekommen, nicht in Ordnung."

Reinhard Schülke, Physiotherapeut

Manchmal fehlt nur ein Kreuz an der richtigen Stelle: Einzelbehandlung oder Gruppentherapie? Oder ein Kürzel ist nicht ganz korrekt. Wenn den Therapeuten diese Fehler nicht auffallen, müssen sie selbst dafür haften – sie bekommen dann von der Krankenkasse kein Geld.

Ralf Buchner berät Physiotherapeuten in ganz Deutschland. Er hält diese bürokratischen Fallstricke der gesetzlichen Krankenkassen für keinen Zufall.

"Die Krankenkassen haben im letzten Jahr knapp über 6 Mrd. Euro für Heilmittel ausgegeben.  Wenn die Krankenkassen es schaffen, durch Kürzungen beispielsweise 5% einzusparen, dann sind das immerhin 300 Millionen Euro. Das ist für die Krankenkassen viel Geld. Und solange der Aufwand, solche Kürzungen vorzunehmen, billiger ist, als das, was ich spare durch die Kürzung, solange werden die das machen."

Ralf Buchner, Berater

report München hat die großen gesetzlichen Krankenkassen nach der Absetzungspraxis gefragt. Nicht alle nennen Zahlen – mehrere räumen aber ein, dass sie zwischen 0,4% und 3% der Verordnungen zum Teil oder ganz absetzen – also nicht bezahlen. Für die Therapeuten ist das ein großes Problem, denn die Leistungen für den Patienten haben sie ja bereits erbracht, und eine Klage gegen die Kassen scheuen viele Therapeuten. Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen sagt, es entspreche nicht dem Verständnis der Kassen, Leistungen wegen Kleinigkeiten nicht zu bezahlen. Er verweist aber auf die Rechtslage:

"Für Leistungen, die auf Basis ungültiger Rezepte erbracht wurden, entsteht kein Vergütungsanspruch."

GKV-Sprecher

Zwar soll eine neue Software Fehler bei Verordnungen minimieren – Physiotherapeut Reinhard Schülke glaubt allerdings, die Kassen werden neue Wege finden.

"Das sind kleine formale Geschichten, die sich immer mehr ausweiten, das heißt diese Überprüfungswut wird immer mehr."

Reinhard Schülke, Physiotherapeut

Derzeit wird in Berlin über ein neues Gesetz für Physiotherapeuten und andere Heilmittelerbringer verhandelt – sie sollen stärker entscheiden dürfen, wie sie behandeln – für viele Therapeuten ändert das am eigentlichen Problem aber wenig.


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