"Cancel Culture" Ob dieser offene Brief für offene Diskussionen sorgt?
150 Autor*innen fordern in einem offenen Brief das Ende von Zensur und "Cancel Culture", darunter J.K. Rowling und Daniel Kehlmann - große Namen. Aber verkehrt sich ihr Plädoyer für eine "offene Debatte" nicht in ihr Gegenteil?

Die deutsche Diskussion über Rassismus tastete sich noch ziemlich unsicher voran, als Talkmasterin Sandra Maischberger vor gut einem Monat heftigen Protest provozierte: Sie hatte ausschließlich Weiße zum Gespräch über Repression gegen Schwarze geladen. Nach dem Shitstorm ruderte die Redaktion zurück und schaltete – sehr kurzfristig – noch eine afroamerikanische Professorin zu.
Das alles war aufgeregt, argumentativ bisweilen verrutscht und irgendwie auch etwas peinlich. Doch es hat eine interessante Meta-Debatte darüber eröffnet, wer eigentlich wozu öffentlich gehört werden sollte. Und auf den allerersten Blick schien es dem hohen Ideal einer offenen Diskussion zuwiderzulaufen, dass sie persönliche Betroffenheit zu berücksichtigen habe. Denn muss "offen" nicht heißen, jeder und jede dürfe prinzipiell über alles sprechen? Und für alle?
Die "offene Debatte" verteidigt nun auch ein offener Brief, den prominente Intellektuelle aus den USA und Großbritannien unterzeichnet haben. Er wendet sich gegen "Zensur" und das Kalkül mit "öffentlicher Scham" als Mittel, abweichende Meinungen auszuschalten und führt – freilich ohne Namen zu nennen – Fälle wie jenen eines Redakteurs der New York Times an. Der war zurückgetreten, nachdem er als Meinungsstück die Forderung eines konservativen Senators veröffentlicht hatte, Militär gegen Anti-Rassismus-Proteste einzusetzen.
Diskriminierung ist immer asymetrisch
"Cancel Culture" wird so etwas – durchaus in polemischer Absicht - genannt, eine Kultur der Annulierung also, des Aussortierens. Darüber, ob es diese Kultur überhaupt gibt, wird wiederum heftig gestritten. Das ist nicht verkehrt, es lohnt sich aber, die Sache einmal von einer anderen Seite aus zu betrachten – womit wieder die unglückliche Maischberger-Gästeliste ins Spiel kommt.
Denn sie hat gezeigt: Dass Schwarze zur Rassismusfrage anderes und Entscheidenderes beitragen können als Weiße, darauf kann man sich dann doch einigen. Ohne die Erfahrung der Diskriminierten ist Diskriminierung nun einmal nicht zu verstehen. Und: Diskriminierung ist – das liegt in der Natur der Sache – immer asymmetrisch. Minderheiten zu Wort kommen zu lassen und diese Wortmeldungen vielleicht erst einmal unkommentiert zur Kenntnis zu nehmen, ist der erste Schritt, diese Asymmetrie aufzuweichen.
Genau gegen diese schmerzhafte Erkenntnis konstruiert der offene Brief nun eine Art Symmetrie der Feindseligkeiten: Man dürfe auf den illiberalen Kurs von Donald Trump nicht mit einem "eigenen Dogma" reagieren. Das passiere jedoch durch eine "Mode öffentlicher Scham" und eine Tendenz zu blendender "moralischer Gewissheit". So sei ein "intolerantes Klima" auf allen Seiten entstanden.
Keine Gleichheit des Gehörtwerdens
Es ist dieses kleine, fast friedfertig daherkommende "on all sides", das den gut gemeinten Appell für eine freie Debattenkultur untergräbt. Denn es gibt hier keinen Gleichklang berechtigter Ansprüche - auf der einen Seite, sagen wir, weiße Vorherrschaft, und auf der anderen jene, die keine Diffamierung von "Black Lives Matter"-Protesten hinnehmen wollen.
Natürlich hat die Betroffenheitslogik ihre Grenzen – und legt ihre Fallstricke aus. Dazu gehört, dass sie auch auf Seiten der "Täter" oft unbedingt persönlich bleibt, indem sie eher fordert, dass jemand seinen Job verliert, als dass er sich einer Diskussion stellen oder einen Fehler eingestehen muss. In der Twitter-Debatte über den offenen Brief zeigte sich dieses unfruchtbare Muster darin, dass es sehr schnell vor allem darum ging, wer denn nun mitunterzeichnet, wer sich also in wessen Gesellschaft begeben hat.
Das führt zweifellos nicht weiter: Maischberger muss nicht gleich vom Bildschirm verschwinden, sondern kann es einfach besser machen - dem komplizierten Meta-Diskurs sei Dank. Umgekehrt gilt aber auch: Die Rede von der "offenen Debatte" darf die soziale Ungleichheiten nicht ausklammern, unter denen überhaupt gesprochen wird. "Cancel Culture" ist keine Erfindung spätmoderner Überempfindlichkeit, sondern eine jahrhundertealte Erfahrung von Minderheiten: Sie sind es, die systematisch ausgeschlossen und unsichtbar gemacht wurden und werden. Das muss erst einmal akzeptiert werden. Und dann folgen wir weiter gemeinsam dem schönen Ideal einer Debatte unter Gleichen.