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Natascha Wodin Sie kam aus Mariupol

Die in Fürth geborene Autorin Natascha Wodin war lange Zeit ein Geheimtipp. Doch mit ihrem neuen Buch kam sie groß raus – und gewann einen Preis auf der Leipziger Buchmesse. In "Sie kam aus Mariupol" beschreibt sie das Leben ihrer Mutter, einer ukrainischen Zwangsarbeiterin.

Von: Dirk Kruse

Stand: 17.05.2017 | Archiv

"Die längste Zeit meines Lebens hatte ich gar nicht gewusst, dass ich ein Kind von Zwangsarbeitern bin. (…) Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war."

Buch-Zitat

Natascha Wodin, geboren am 8. Dezember 1945 in Fürth, lebte die ersten fünf Jahre in einem Schuppen an der Stadtgrenze zwischen Nürnberg und Fürth. Danach mussten ihre russischen Eltern ins berüchtigte Valka-Lager für "Displaced Persons" in Nürnberg-Langwasser umziehen, ehe die Familie in eine Siedlung für heimatlose Ausländer nach Forchheim geschickt wurde. Das Mädchen wurde von ihren Mitschülern übel gemobbt. Der entwurzelte Vater trank und prügelte. Und die depressive Mutter ertränkte sich in der Regnitz als die Autorin zehn Jahre alt war. Danach wuchs sie in einem katholischen Mädchenheim in Bamberg auf, wo es ihr auch nicht viel besser ging.

"Ich wollte weg, immer nur weg, seit ich denken konnte, meine ganze Kindheit wartete ich nur aufs Erwachsenwerden, damit ich endlich wegkonnte. Ich wollte weg aus der deutschen Schule, weg aus den 'Häusern', weg von meinen Eltern, weg von allem, das mich ausmachte und mir vorkam wie ein Versehen, in dem ich gefangen war."

Buch-Zitat

Von ihrer Familie weiß Natascha Wodin so gut wie nichts. Sechzig Jahre nach dem Selbstmord ihrer Mutter gibt sie aus einer Laune heraus den Namen ihrer Mutter ins russische Internet ein - und landet völlig überraschend einen Treffer.

"Und langsam, oder schon eher lawinenartig, habe ich dann immer mehr Informationen bekommen und immer mehr gefunden. Es war alles ganz unglaublich, und es erscheint mir noch heute unwirklich. Ich hatte meine Eltern, von denen ich nichts wusste, und jetzt habe ich zuhause an der Wand einen Stammbaum, der ist ganz groß mit hunderttausend Zweigen. Die sind natürlich fast alle tot. Aber ich weiß jetzt vielleicht mehr als manch anderer, woher ich komme."

Autorin Natascha Wodin

Natascha Wodin entdeckt, dass sie griechische, italienische, russische, ukrainische und baltische Wurzeln hat. Dass ihre 1920 geborene Mutter von einer Adelsfamilie abstammt, ihr Onkel ein berühmter Opernsänger in der Sowjetunion war. Diese Recherche wird in "Sie kam aus Mariupol" anschaulich und fesselnd beschrieben. Ihre Mutter erlebt die Wirkungen der russischen Revolution und der kommunistischen Diktatur ganz unmittelbar: Verfolgung, Todesdrohung, Krankheit und ständiger Hunger. Dann beginnt der Krieg und die junge Frau und ihr Mann werden als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt - von einem totalitären System ins nächste. Die Zwangsarbeiter werden oft schlimmer als Tiere behandelt. Sie sind Arbeitssklaven, denen man kaum etwas zu essen gibt und die arbeiten müssen, bis viele vor Schwäche sterben. Natascha Wodin widmet sich damit einem Thema, das in der historischen Forschung kaum und in der Literatur so gut wie gar nicht behandelt wurde.

"In den Medien kommt das Thema ganz wenig vor. Wenn ich mit Leuten rede und sie frage, wissen viele gar nichts davon. Und bei anderen, die etwas darüber wissen, frage ich: Was denkst du denn wie viele Lager es damals in Deutschland gab? Dann antworten die Leute meistens: vielleicht zehn oder hundert oder so. Das hätte ich vor meinen Recherchen auch gedacht. Aber es waren 45.000, und davon 35.000 Zwangsarbeiterlager. Ich kann mir rein optisch gar nicht vorstellen, wie das Land ausgesehen hat."

Autorin Natascha Wodin

"Sie kam aus Mariupol" ist ein faszinierendes, glänzend recherchiertes Buch, das gefehlt hat. Halb Roman, halb Dokumentation macht sie die Wirkungen von Geschichte am Schicksal ihrer Mutter deutlich. Niemals anklagend, aber eindringlich und einfühlsam. Teilweise liest sich das Werk spannender als ein Krimi. Eine intensive Lektüre, die zu schreiben eine Tortur gewesen sein muss.

"Komischerweise gar nicht. Ich habe mich wahnsinnig darüber gefreut, dass ich das alles gefunden habe, und war begierig darauf, es aufzuschreiben. Auch wenn es Ungeheuerlichkeiten waren. An einer Stelle, wo ich diesen Muttermörder gefunden habe, habe ich ein bisschen daran gezweifelt, ob ich das alles wirklich wissen will. Aber dann habe ich eine Nacht darüber geschlafen und wollte es doch wieder wissen."

Autorin Natascha Wodin

Ihr "Lebensbuch" nennt Natascha Wodin dieses Werk. Denn es hat sie mit ihrem eigenen Schicksal und ihren schlimmen Kindheitserlebnissen ein wenig versöhnt.

"Eine Zeit lang hatte ich wirklich eine starke Aversion gegen Franken. Das ist längst vorbei. Denn es ist klar, dass das, was mir in Franken passiert ist, mir in meiner Kindheit genau so oder so ähnlich auch hätte woanders passieren können. Heute bin ich nicht mehr ganz unglücklich darüber. Ich hätte vielleicht nie angefangen zu schreiben, wenn ich eine heile Kindheit gehabt hätte."

Autorin Natascha Wodin

Info & Bewertung

Wertung: 5 Frankenrechen von 5 | Bild: BR

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol, Reinbek 2017, Rowohlt Verlag, 386 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-498-07389-3

Natascha Wodin ist eine bedeutende deutsche Autorin, die schon mehrere großartige Bücher geschrieben hat. Die Kritik hat das in den vergangenen Jahren zunehmend gewürdigt. Doch das Lesepublikum hat Wodins Romane kaum wahrgenommen. Mit der Verleihung des Leipziger Buchpreises an "Sie kam aus Mariupol" ist ihr nun endlich der Durchbruch gelungen. Das Buch erklomm die SPIEGEL-Bestsellerliste. Man kann die Leser beneiden, die die Lektüre dieses Meisterwerks noch vor sich haben. Das ist große, wichtige Literatur.


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