Franken - Buchtipps


7

Gunther Geltinger Moor

Der Unterfranke Gunther Geltinger hat einen der erstaunlichsten Romane des Bücherherbstes geschrieben. "Moor" heißt das düstere Buch, das vom Kampf mit dem Leben und der Sprache erzählt – aus der Perspektive der Landschaft selbst.

Von: Dirk Kruse

Stand: 02.10.2013 | Archiv

Buchcover "Moor" von Gunther Geltinger | Bild: BR-Studio Frnaken / Suhrkamp Verlag

Niemand spricht hier. Wo du hinlauschst, ist Wasser, stehen Erlen, in den Binsen zerrt Wind. Auch der Nebel hat keinen Ton, nur seine Gestalten, die aus dem Nichts kommen, dich anstarren und gehen. Den Worten am ähnlichsten ist noch der Regen. Er rauscht in fließenden Sätzen herab, gerät über den Bäumen ins Stocken, stottert auf Blätter die Konsonanten, gluckst dunkle Vokale in Mulden, und wenn das eine ins andere tropft, eine Bö fauchend durchs Laub fährt, flinke Wellen aufwirft, den Dunst zerreißt und das Schilf verwirrt, hörst du in alledem doch meine Stimme. (Moor, S. 9)

So beginnt der atmosphärisch dichte und düstere Roman "Moor" von Gunther Geltinger. Es ist die Geschichte des 13-jährigen Dion Katthusen und seiner Mutter Marga, einer erfolglosen Malerin. Die alleinerziehende, tablettenabhängige, psychisch gestörte Künstlerin lebt mit ihrem Sohn in einem Einsiedlerhof im Moor und bringt die kleine Familie mit Gelegenheitsprostitution finanziell über die Runden. Erzählt wird dieser beeindruckende Adoleszenz-Roman an vier Tagen eines Jahres, jeweils im Herbst, Winter, Frühling und Sommer aus einer ganz ungewöhnlichen Perspektive. Weder Dion noch Marga berichten, auch keine Figur aus ihrem Umfeld oder gar ein allwissender Erzähler. Hier spricht das Moor. Die Landschaft selbst wird zum Erzähler.

"Was mich an Landschaften in Romanen oft stört, sind diese Seelenlandschaften. Die Landschaft als Abbild der Versehrtheit des Protagonisten. Ich wollte das umkehren. Ich wollte die Landschaft sprechen lassen, um die Person festzulegen."

Gunther Geltinger

In der ausgefallenen Du-Perspektive spricht das Moor den heranwachsenden Dion an und erzählt ihm seine Außenseitergeschichte – eine Geschichte voller seelischer und körperlicher Übergriffe seitens seiner Mutter. Denn der Junge selbst kann es nicht tun. Er ist ein Stotterer, der mit der Sprache ringt und vielfach verstummt.

Jedes Kind, Dion, gurgelt es im trüben Wasser, hat zeitlebens die falsche Mutter. Deine Mutter bringst du nicht hinter dich, bis zu ihrem Tod klebt ihre Liebe an dir und danach für den Rest deines Lebens der alte Groll, denn immer wird das, was sie für dich getan hat, zu viel oder zu wenig, Unterlassung oder Übergriff gewesen sein, die Rabenmutter schert sich um dich einen Dreck, die Glucke schleift dich zum Stotterarzt, die eine wie die andere hat deine wahren Nöte und Sorgen bis zuletzt nicht erkannt, das Brodeln unter der Oberfläche deines Schweigens, das du selber hättest brechen müssen. (Moor, S. 75)

In seinem ersten Roman "Mensch Engel" hat Gunther Geltinger seine unterfränkische Heimat beschrieben.

Für sein zweites Buch hat der Autor absichtlich eine Landschaft gewählt, die ihm zunächst fremd war. Für die Recherche hat sich Geltinger intensiv mit der Biologie und der Entstehung von Mooren beschäftigt.

"Ich habe mich bewusst in die Moore begeben, um zu recherchieren, und fand Landschaften vor, die mich auf den ersten Blick eher enttäuscht haben, weil sie unspektakulär sind, weil sie friedlich sind. Erst auf den zweiten Blick entpuppt sich das Moor als eine äußerst spannende, geschichtenreiche Landschaft."

Gunther Geltinger

Info & Bewertung

Wertung: 5 Frankenrechen von 5 | Bild: BR

Gunther Geltinger: Moor, Roman, Berlin 2013, Suhrkamp Verlag, 441 Seiten, 22,95 Euro, ISBN 978-3-518-42393-6

So wird das vielschichtige Moor bei Geltinger nicht nur zum Erzähler, sondern zu einer großen sinnlichen Metapher. Dieser ambitionierte, kunstvolle, originelle und schonungslose Roman erzählt von Dions Sehnsucht nach einer intakten Sprache. Er tut das in einem ganz eigenen, unverwechselbaren Ton. Denn Gunther Geltinger ist selbst ein Stotterer, sein Schreiben ein existenzieller Akt und der Roman ein echtes Sprachkunstwerk.

"Ich erschließe mir die Geschichte, die Inhalte, über die Sprache. [...] Ich konzentriere mich beim Schreiben auf den Klang und Rhythmus. Ich ordne die Inhalte dem unter. Wenn ein Satz nicht klingt, aber trotzdem einen wichtigen Inhalt transportiert, dann muss er raus, dann muss ich solange den Inhalt in einer Klangfigur finden, bis sie stimmt. Das ist mehr eine kompositorische Arbeit."

Gunther Geltinger

Stichwort: Gunther Geltinger

Gunther Geltinger | Bild: Jürgen Bauer / Suhrkamp Verlag

Gunther Geltinger wurde 1974 in Erlenbach am Main im Landkreis Miltenberg geboren. Dort in Unterfranken verbrachte der Sohn zweier Germanisten seine Kindheit und studierte nach dem Abitur an der Filmhochschule in Wien Filmdramaturgie und Drehbuch. In Köln, wo er heute lebt, setzte er seine Studien an der Kunsthochschule für Medien fort. Bereits als Siebenjähriger schrieb er seine erste Erzählung. Geltingers erster autobiographisch geprägter Roman "Mensch Engel" über die Initiation eines jungen Homosexuellen kam 2008 bei Schöffling und Co. heraus und wurde von der Kritik überwiegend sehr positiv aufgenommen. "Moor", soeben im Suhrkamp Verlag erschienen, ist Gunther Geltingers zweiter Roman, an dem der Autor viereinhalb Jahre lang gearbeitet hat.


7

Kommentieren

Annette Liebich, Montag, 25.Mai 2015, 20:11 Uhr

1. Kommentar (vorläufiger)

Nach dem, was ich hier las, werde ich mir den Roman sofort kaufen. Die Ausdrucksweise, die Sprache, spricht mich voll an! Das ist genau die literarische Sprache, die mich berührt. Ich bin gespannt auf´s Lesen u. werde, wenn es mein Dienst zulässt, zur Vorlesung in die Villa kommen! Ganz liebe Grüsse!

Annette Liebich