Medikamentenknappheit in Deutschland Patientinnen in Sorge
Monatelang fehlt in Deutschland ein wichtigstes Medikament zur Nachsorge bei Brustkrebs: Tamoxifen. Offenbar lohnt sich die Produktion für viele Hersteller nicht mehr. Nun wird die Vorhaltung eines Sicherheitsbestands für wichtige Arzneimitteln diskutiert.
"Ich bin 41 und ich hatte Brustkrebs."
Patientin
Ihren vollen Namen möchte die junge Frau nicht in der Öffentlichkeit nennen. Sie bekam die Diagnose vor 6 Jahren. Brustkrebs. Jede 8. Frau in Deutschland ist davon betroffen.
Eine Hochdosis Chemotherapie und eine Operation folgten. Seither ist sie in der Nachsorge. Muss täglich eine Tablette Tamoxifen nehmen, um einen Rückfall zu verhindern. Doch als sie vor ein paar Wochen ihr Rezept einlösen möchte, ist das Medikament nicht lieferbar.
"Das überrollt einen ganz schön oder ich habe mich davon ganz schön überrollt gefühlt."
Patientin
Einfach Absetzen ist keine Option. Deswegen fängt sie an, zu suchen.
Patientinnen haben keine Alternative
Tamoxifen ist wichtiger Baustein einer Therapie, die die Wirkung von Östrogen hemmt, die Menopause auslöst und so Tumorwachstum verhindern soll. In Deutschland nehmen ungefähr 130.000 Menschen Tamoxifen. Besonders junge Frauen haben keine Alternative.
Das betont auch Dr. Rachel Würstlein von der Universitätsklinik München. Fünf bis zehn Jahre lang täglich eine Tablette Tamoxifen - das habe sich bewährt.
Für Tamoxifen gibt es keinen Patentschutz mehr. Das Medikament wird als Generikum in Deutschland preiswert angeboten. Laut Hersteller-Verband ProGenerica haben gleich mehrere Hersteller die Produktion eingestellt. Sie war für sie nicht mehr rentabel.
Vergebliche Suche
Patientin: "Ich habe ein Rezept, ich bräuchte einmal Tamoxifen bitte."
Apotheker: "Oh, das ist zur Zeit…, da gibt es Schwierigkeiten..."
Patientin: "Gibt es nicht die Möglichkeit, dass sie doch noch einmal sicherheitshalber schauen, ob sie nicht einen Restbestand in der Schublade haben?"
Doch leider auch in dieser Apotheke kein Erfolg.
Über Wochen halten wir Kontakt zu der Patientin, die sich an uns gewendet hat. Sie hat ihre Suche auf ganz Deutschland ausgedehnt. In ihrem Notizbuch notiert sie, wo sie schon überall vergeblich nachgefragt hat.
"Also mich macht das fassungslos. Das eine ist die Angst und das andere ist einfach wirklich so die Frustration da drüber, wie das in unserem Gesundheitssystem sein kann."
Patientin
Sind Medikamente zu billig?
Was läuft da schief im deutschen Gesundheitssystem? Pharmahersteller, Apotheker, Ärztevertreter und Krankenkassen sitzen im Beirat für Versorgungs- und Lieferengpässe, suchen nach Lösungen. Es geht offenbar vor allem um Geld:
"Die Situation in Deutschland mit Herstellerrabatt, mit Preismoratorien, mit Festbeträgen und individuellen Rabattverträgen hat dazu geführt, dass hundert Tabletten im Festbetrag heute noch 22 Euro 40 glaube ich sind, ja, und davon kriegt der Hersteller acht Euro achtzig. Das ist ein großes Problem, das die Schleife, die Preisspirale immer weiter nach unten gegangen ist, dass irgendwann die Hersteller sagen, bei so einem Arzneistoff, der so aufwändig herzustellen ist, da stelle ich die Produktion ein, und das ist passiert."
Prof. Dr. Martin Schulz, Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker
Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen widerspricht: „Der Vorwurf, Rabattverträge seien schuld an Lieferengpässen, ist generell nicht haltbar.“ Die Kassen fordern „mehr Transparenz und eine sanktionsbewährte Meldeverpflichtung.“
Hersteller und Kassen schieben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu. Eine fatale Situation, sagt die zuständige Fachgesellschaft in Berlin.
"Ich nehme die Schuldzuweisung wahr. Das hilft mir als Arzt überhaupt nicht, und ich kann damit auch nicht gut umgehen. Dazu haben die Parteien, die hier verantwortlich sind, auch eine Verantwortung gegenüber den Patientinnen und den Patienten. Das heißt, das Präparat muss verfügbar gemacht werden."
Prof. Dr.med. Bernhard Wörmann, Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie
Engpass nur in Deutschland?
Gibt es den Versorgungsengpass tatsächlich nur in Deutschland, weil dort die Medikamente preiswert sind? Wir fragen in einer österreichischen Apotheke nach.
Tatsächlich hat die Apotheke einen großen Vorrat an Tamoxifen. Auch in anderen europäischen Ländern wie Italien oder der Schweiz ist das Medikament verfügbar.
"Wir haben alles wirklich, was an Import möglich war, für die Niederlande, aus der Schweiz, aus Italien und so weiter haben wir möglich gemacht. Das reicht einfach nicht aus, um die 4,2 Millionen Tabletten, die wir jeden Monat benötigen, in Deutschland zu kompensieren."
Prof. Dr. Martin Schulz, Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker
Durch Importe und die Abgabe von nur kleinen Mengen wird der Engpass gemanaged. Hersteller Hexal hilft mit einer eine Sonderproduktion von 20 Millionen Tabletten. Das nutzt nur kurzfristig, langfristig ist noch keine Lösung in Sicht und Professor Wörmann hat weitere Engpässe auf dem Schirm.
Ein Interview mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach, "lies sich leider nicht einrichten", so sein Ministerium. Kurzfristig, heißt es, sei "das Problem gelöst". Langfristig sollen "Möglichkeiten der Vorhaltung eines Sicherheitsbestands an bestimmten Arzneimitteln geprüft werden."
Sie hat nach langer Suche doch noch eine Packung für die nächsten Wochen gefunden, in einer kleinen Apotheke in Bayern.
"Jetzt im Verlauf der letzten zwei, drei Wochen finde ich es schon fast egal, was die Gründe im Einzelnen sind. Mich wundert tatsächlich auch, wie sehr dabei die Verantwortung eben an die Patientinnen abgegeben wird. Ja, wir sind an der Stelle das Ende der Nahrungskette."
Patientin
Sie hofft, dass Tamoxifen wieder normal verfügbar ist, wenn sie ihre Tabletten aufgebraucht hat. Aber die Versorgungslage bleibt unsicher, solange es keine verpflichtende Vorratshaltung gibt.
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Annette Bollmohr, Mittwoch, 04.Mai 2022, 10:57 Uhr
1. Medikamentenknappheit in Deutschland - Patientinnen in Sorge
So sieht's aus in einem Wirtschaftssystem, in dem Geld mehr "zählt" als Leben. Bzw. in dem die Menschen für das Geld da zu sein haben, statt umgekehrt.
Alles eines Frage der Wertmaßstäbe - oder vielmehr: der "Bewertungs"-Maßstäbe.
Wobei wir bei der Frage wären, wer die "festlegt".