Report München


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80 Jahre Kriegsende Das Schicksal des unbekannten Soldaten 173

80 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs werden noch immer gefallene Soldaten exhumiert. Und manche Angehörigen haben neue Hoffnung, endlich Gewissheit zu bekommen. Wir begleiten die Suche nach Angehörigen eines Toten aus den letzten Kriegstagen. 

Von: Christian Stücken

Stand: 29.04.2025

Die Erkennungsmarke des Volkssturmsoldaten mit der Nummer 173 | Bild: picture alliance / SZ Photo | Scherl | BR/Christian Stücken | Montage: BR

Oktober 2024, der Spreewald südlich von Berlin. Joachim Kozlowski von der Deutschen Kriegsgräberfürsorge ist hierher nach Halbe gekommen, um einen Kriegstoten bergen.

"Der Tote, so wie es ausschaut, liegt in flacher Rückenlage und hat auf der Seite erkennbar seinen linken Oberarm."

Joachim Kozlowski, Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Joachim Kozlowski will den Toten auf einem Friedhof bestatten - und er will sein Schicksal klären.

"Es gibt halt immer noch Angehörige. Es gibt immer noch Kinder. Die waren vielleicht damals vier, fünf Jahre alt und können sich im Grunde genommen kaum noch daran erinnern, dass ihr Vater damals in Uniform in den Krieg zog und nicht mehr wiederkam."

Joachim Kozlowski, Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Eine monatelange Spurensuche beginnt

Auch für uns beginnt eine monatelange Spurensuche. Wer ist dieser Mann? Wo kam er her? Das wollen wir herausfinden. In dem Grab befindet sich ein Bajonett, ein leeres Marmeladenglas. Jetzt sucht Joachim Kozlowski nach der Erkennungsmarke - das wäre die einfachste Möglichkeit, den Toten zu identifizieren.

"Hier sind halt Stoffreste dran. Das ist die Erkennungsmarke. Das ist ne verzinkte Marke und die ist perfekt."

Joachim Kozlowski, Deutsche Kriegsgräberfürsorge

80 Jahre lag er hier im Wald verscharrt. Wer ist dieser Mann? Das lässt sich der Erkennungsmarke entnehmen. Aber ist sie noch zu entziffern?

"Deutsch - Volkssturm … 8/16. Und dann gibt es noch eine persönliche Stammrollennummer."

Joachim Kozlowski, Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Sie lautet 1-7-3. Der Tote war Soldat 173 aus dem Volkssturm-Bataillon 8/16. Ende 1944 werden sogar Jugendliche und die 60-jährigen eingezogen, Hitlers letztes Aufgebot!

"Die Bataillone des Volkssturms sind zum Einsatz bereit. Was sie über das Handwerk des Kriegers wissen müssen, bringen die meisten aus dem Ersten Weltkrieg mit."

Deutsche Wochenschau, 25. Januar 1945

Ostern 1945. Der Krieg geht zu Ende. Immer weiter dringen die Alliierten auf deutschen Boden vor. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Niemand weiß, ob er den nächsten Tag überleben wird.

Wer war Soldat 173?

Unsere Recherchen ergeben: Das Volkssturm-Bataillon 8/16 wird in Halle an der Saale aufgestellt. Im Frühjahr 45 wird es an die Front geschickt, um die Rote Armee aufzuhalten. Seither fehlt von Soldat 173 jede Spur.

Unsere Suche nach ihm führt uns ins Bundesarchiv in Berlin, zu Birgit Wulf. Hier befinden sich die Akten der ehemaligen Wehrmachtsauskunftsstelle, mit Angaben zu 18,5 Millionen Soldaten. Doch zu den Volkssturmeinheiten, die erst in den letzten Kriegsmonaten aufgestellt wurden, gibt es kaum Unterlagen.

"Vieles ist verbrannt, vieles wurde auch mitgenommen. Also dementsprechend haben wir leider von den Volkssturmeinheiten so gut wie gar nichts mehr."

Birgit Wulf, Bundesarchiv

Die Erkennungsmarke des Soldaten 173 kann hier nicht entschlüsselt werden. Unsere nächste Station: Der Suchdienst Deutsches Rotes Kreuz in München. Hier stehen die Anfragen von Millionen Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre vermissten Angehörigen gesucht haben.

Maximilian Fixl sucht für uns in den "Vermisstenbildlisten" nach Männern aus dem Volkssturm. Er wird fündig - und entdeckt 15 Vermisste aus dem Bataillon 8/16:

"Das sind jetzt 15 Personen, die dort in dieser Einheit als vermisst gelten und davon eben einige dann eben in diesem Raum Halbe südlich von Berlin."

Maximilian Fixl, Suchdienst Rotes Kreuz München

15 vermisste Männer, jeder könnte Soldat 173 sein. Einige davon kann er ausschließen, weil sie nach dem Krieg in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gestorben sind. Bleiben zehn Männer, der Kreis wird kleiner. Wir schreiben an alle in Frage kommenden Einwohnermeldeämter und Stadtarchive…

… und stoßen nach Wochen der Recherche in Schleswig-Holstein auf Wolf-Dietrich Reimer. Sein Onkel Kurt war Soldat in diesem Volkssturm-Bataillon 8/16. Nach unserer Anfrage beginnt er, im Nachlass seines Vaters nach Fotos zu suchen. Ist Soldat 173 sein Onkel Kurt? Auf vielen Bildern entdeckt er ihn gemeinsam mit seinem Vater.

"Man sieht an den Gesichtern die pure Lebensfreude. Gut, dass sie damals noch nicht gewusst haben, was alles noch auf einen zukommt."

Wolf-Dietrich Reimer

Als sein Onkel Kurt verschwindet, ist er 43 Jahre alt.

Gibt ein DNA-Test die Antwort?

Unsere Recherchen ergeben: Er wird zuletzt hier gesehen, im Spreewald bei Halbe, am 23. April 1945. Einen Tag später schließt die Rote Armee die deutschen Verbände dort ein. Im "Kessel von Halbe" befinden sind mehr als 250.000 Menschen. Kurt Reimer ist einer von ihnen, hier verliert sich seine Spur.

Vieles spricht dafür, dass sein Onkel Soldat 173 sein könnte. Als wir Wolf-Dietrich Reimer vorschlagen, einen DNA-Test zu machen, stimmt er zu. Dann geht alles sehr schnell. Joachim Kozlowski bringt die Gebeine von Soldat 173 in die Rechtsmedizin nach Potsdam.

"Das, was ich Ihnen mitgebracht habe, sind die sterblichen Überreste des deutschen Soldaten."

Joachim Kozlowski, Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Soldat 173. Kann er am Ende durch einen DNA-Abgleich identifiziert werden?

Wenige Tage später kommt Hartmut Fischer von der Rechtsmedizin aus Potsdam nach Schleswig-Holstein, um auch von Wolf-Dietrich Reimer eine DNA-Probe zu nehmen.

"Viele sprechen landläufig immer von Speichelprobe, aber was wir wirklich wollen, sind Schleimhaut-Zellen, weil die am beständigsten sind."

Hartmut Fischer, Rechtsmedizin Potsdam

Wolf-Dietrich Reimer hat inzwischen große Hoffnungen, dass Soldat 173 sein Onkel ist.

"Dann wüsste ich genau, man braucht nicht weitersuchen. Die Sache hat ein Ende."

Wolf-Dietrich Reimer

Seit 80 Jahren ist sein Onkel im Spreewald verschollen. Was ist damals mit ihm geschehen? Zwei Wochen nach dem Test bekommt Wolf-Dietrich Reimer das Ergebnis des DNA-Abgleichs.

"Ja, ich bin sehr gespannt. Wir haben jetzt schon etliche Tage darauf gewartet, und jetzt würde ich das gerne aufmachen ... Untersuchungsbefunde."

Wolf-Dietrich Reimer

Das Ergebnis steht ganz am Ende.

"Es kann der in Rede stehende Verwandtschaftsgrad forensisch genetisch nicht abgeleitet werden."

Wolf-Dietrich Reimer

Soldat 173 ist nicht sein Onkel.

"Das hatte ich nicht so erwartet. Ich hatte eher erwartet, dass da ein Verwandtschaftsgrad festgestellt werden könnte. Und das ist nicht der Fall."

Wolf-Dietrich Reimer

Aber er will weiter nach ihm suchen. Soldat 173 wird hier auf dem Waldfriedhof in Halbe seine letzte Ruhestätte finden. Das Schicksal von Kurt Reimer aber bleibt ungeklärt. Wir bleiben dran.

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Michael Thelosen, Dienstag, 29.April 2025, 14:24 Uhr

1. Das Schicksal von 1.3 Millionen vermissten Soldaten in Deutschland

Selbst nach 80 Jahren ist das Schicksal vieler vermisster Soldaten nicht aufgeklärt. Bei einer Buchvorstellung zu "1945 - Die Front am Niederrhein" des Historikers Alexander Berkel (ZDF Redakteur und Autor) und Ortwin Nißing (Leiter Ordnungsamt Hamminkeln) wurde unter anderem erwähnt:: "das US Organisationen nach wie vor bis heute versuchen weltweit die sterblichen Überreste ihrer Soldaten auch mit forensischen Methoden ausfindig zu machen oder gar ins Heimatland zu überführen. Auch die Briten gingen ganz anders und würdevoller mit ihren Opfern um als die Deutschen. Ortwin Nißing sprach bei einer Buchvorstellung in Meerhoog/Rees gar von schlampriger Arbeit der Deutschen". Am linken Niederrhein wurde am 8. Februar 1945 der Klever Reichswald über 5 Stunden aus 1034 Geschützen beschossen. Anfänglich standen sich 12.000 Wehrmachtsoldaten und fast 500.000 Alliierte gegenüber. Es gibt bis heute nur Schätzungen über die Verluste am Niederrhein, die zwischen 20.000 und 60.000 liegen.

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