Report München


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Teuer, aufwendig, bürokratisch Neuer Ärger um die EU-Medizinprodukteverordnung

Seit 2017 müssen alle Medizinprodukte in der EU neu zertifiziert werden. Zum Schutz der Patienten. Die Kehrseite: Viele Firmen vermeiden die teure, sehr aufwendige Zertifizierung.

Author: Mira Barthelman

Published at: 24-4-2023

OP-Saal Nummer 3 im "Krankenhaus Barmherzige Brüder" in München. Auf dem OP-Tisch: Ein Patient mit schlecht verheilten Knochenbrüchen. Die Orthopäden setzen dem Unfallopfer eine Spezial-Prothese ein, mit der er sein Bein künftig wieder abwinkeln kann. Doch solche komplexen Eingriffe könnten in Zukunft schwieriger werden. Chirurg Prof. Johannes Beckmann erklärt den Grund: drohender Materialmangel. "Man wollte den Patienten schon vor vielen, vielen Jahren amputieren. Der Eingriff ist also nochmal eine Chance. Und dafür gibt es genau ein Produkt, was ich noch auftreiben konnte. Es könnte rein theoretisch sein, dass das in der Zukunft nicht mehr zur Verfügung steht." Eine neue Verordnung der EU könnte solche Lieferschwierigkeiten verschärfen.

Hunderttausende Neuzulassungen

In Deutschland gibt es aktuell über 400.000 zugelassene Medizinprodukte. Prothesen, OP-Besteck, Spritzen, Katheter. Viele davon seit Jahrzehnten in der Praxis bewährt. Doch die Europäische Union will sich darauf nicht verlassen. Hersteller hunderttausender Medizinprodukte müssen von vorne anfangen und in den nächsten Jahren neue EU-Zulassungen einholen. Grund ist ein Skandal, der bereits zwölf Jahre zurückliegt: Schadhafte Brustimplantate, die bei zehntausenden Frauen wieder entfernt werden mussten, riefen die EU auf den Plan.

EU: "Alte Regeln waren nicht streng genug"

Stefan de Keersmaecker ist Sprecher der EU-Kommission für Gesundheitswesen, die die neuen Regeln ausgearbeitet hat. Er verteidigt die Verordnung: "Wir haben sichere Regeln gebraucht, die alten Regeln waren nicht streng genug, um die Probleme, die wir hatten, zu verhindern." Die Folgen sind allerdings drastisch, denn manche Hersteller meiden eine Neuzulassung in der EU.

US-Zulassungen attraktiver

Die deutsche Firma Link etwa stellt sogenannte Sattelprothesen her. Von denen werden in Deutschland nur einige Dutzend im Jahr gebraucht – aber wenn, dann dringend. Die Prothese kann Patienten vor der Beinamputation bewahren. Die EU verlangt jetzt eine klinische Studie, um das Produkt noch einmal zuzulassen, erklärt Geschäftsführer Norbert Ostwald: "Das geht mal ganz schnell in viele hunderttausend Euro – bis zu einer Million oder noch mehr Euro. Das führt dazu, dass wir überlegen, und in manchen Fällen haben wir das auch schon so umgesetzt, dass wir die Produkte zuerst in Amerika in den Markt bringen." Das bedeutet: Die Firma Link verkauft ihre Sattelprothesen vorerst nicht mehr in Europa.

Standort Deutschland in Gefahr?

Und dabei wird es nicht bleiben, sagt Marc-Pierre Möll vom Bundesverband Medizintechnologie im ARD-Politikmagazin report München. Firmen könnten auch ihre Produktion aus Europa heraus verlagern. "Wir produzieren für die gesamte Welt Medizinprodukte hier in Deutschland mit über 13.000 Unternehmen – davon über 90 Prozent kleine, mittelständische, hochinnovative Unternehmen. Hidden Champignons. Und die können diese Regulierungen nicht stemmen. Und dann gibt es mehrere Möglichkeiten. Und eine Möglichkeit ist, dass dann viele sagen: ich verlasse den Standort Deutschland." 89 Prozent aller Hersteller bevorzugen es mittlerweile, ihre Produkte in den USA zuzulassen. Das hat kürzlich eine Studie der Boston Consulting Group und der Universität Los Angeles ergeben. Für die Patienten in Europa sind das keine guten Aussichten.

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H. Weigle, Mittwoch, 26.April 2023, 09:36 Uhr

3. Alle Risikoklassen von Medizinprodukten durch MDR nahezu gleich reglementiert

Vielen Dank für diesen wichtigen Beitrag! Es ist richtig, dass bei Produkten höherer Risikoklassen in der Zeit vor MDR das Konformitätsbewertungsverfahren teilweise zu wenig von benannten Stellen kontrolliert wurde. Dies eröffnete Schlupflöcher für kriminelle Machenschaften, siehe PIP-Skandal. Der MDR-Grundgedanke war indes richtig, solche Produkte strenger zu reglementieren. Grundlegend falsch hingegen war, das Regelmonster MDR über alle Risikoklassen hinweg gleichermaßen anzuwenden. So sind es meist KMU, die innovative, risikoärmere Produkte anbieten bzw. angeboten haben und die immensen Zulassungskosten nicht stemmen wollen oder schlicht nicht können. Somit wurden gleich zwei Probleme mit der MDR erzeugt: 1. Innovative und Nischenprodukte sowie ganze KMU verschwinden nach und nach vom Markt bzw. wandern aus Europa ab. 2. Die EU und auch UK haben bemerkt, dass die ursprünglichen Fristen nicht einzuhalten sind. Somit wird die angestrebte Sicherheit für Hochrisikoprodukte verzögert.

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M.v.Lier, Mittwoch, 26.April 2023, 08:49 Uhr

2. Ist das alles so gewollt?

Vielen Dank für den Beitrag. Leider gibt es viel zu wenige davon und es entzieht sich ganz und gar meinem Verständnis, dass dieses brennende Thema so wenig Beachtung im öffentlichen Umfeld, bei Medien und Politik findet. Ich arbeite in der Branche und wir sehen seit mindestens 2 Jahren, dass immer mehr Produkte abgekündigt werden und KMUs aufgeben oder sich anderen Branchen zuwenden. Produkte, die seit langen Jahren erfolgreich und ohne Beanstandung waren, dürfen von jetzt auf gleich nicht mehr produziert werden. Patienten können nicht mehr zeitnah oder überhaupt versorgt werden. Konservative Therapien stehen vor dem Aus. KMUs mit innovativen neuen Ideen werden ausgebremst. Selbstverständlich sind Regularien und Kontrollen gerade bei Medizinprodukten wichtig und richtig. Diese gab es allerdings auch schon vor der MDR. Und 99% der Unternehmen haben schon immer ethisch korrekt gehandet. Letzendlich sind es kranke Menschen, Patienten ohne Versorgung, die leiden. Ist das alles so gewollt?

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Dr. Stefan Margraf, Mittwoch, 26.April 2023, 08:09 Uhr

1. Medizinproduktegesetz und in vitro diagnostica regulation

Ich weiß von vielen Startups in diesem Bereich, welkche aufgrund der neuen Gesetze entweder Pleite gingen oder keinen Investor mehr fanden. Es dauert zur Zeit 10 Jahre bis man ein Medizinprodukt in den Markt bringen kann, dass überleben kleiner Firmen nicht. Komplexe Medizinprodukte, wie künstliche Herzen, werden gar nicht mehr angegangen. Viele Produkte verschwinden vom Marrkt, nicht nur weil der Aufwand zu hoch ist, sie finden einfach keine benannte Stelle mehr. Die Situation mit den benannten Stellen ist wie folgt: Es ist, als ob sie mit ihrem Auto zum TüV fahren: erst der 10. TüV nimmt sie und sagt" lassen sie ihr Auto hier stehen und rufen sie in 18 Monaten an!. Sollte ein Mangel vorliegen, dann werden wir den Auftrag nicht mehr weiterbearbeiten!"

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